Nicht Ganz Sauber – (2) – Der Sturm

Der Löwe und ich begegneten uns das erste Mal auf dem Ludwigsplatz. Eigentlich treffen wir uns ausschließlich dort. Wahrscheinlich bin ich verrückt, doch mir gefällt der Gedanke, eine Statue zum Freund zu haben. Er wurde mein Ansprechpartner in allen Lebenslagen, mein Psychologe und Kritiker. Ich nannte ihn Hubert.

„Und am 25. Januar 2007 mit Unterstützung der Passauer Bürgerstiftung, der Volksbank und der VR Bank Passau an der ursprünglichen Stelle wieder aufgestellt“, beendete Hubert seinen Vortrag. Ich verdrehte die Augen. „Das hast du mir jetzt schon 100 Mal erzählt.“ „Und ist es deswegen weniger wichtig?“, schnauzte der Löwe mich an und fletschte die Zähne. „Keine Sorge“, lachte ich und trat unwillkürlich einen Schritt zurück, „diese Woche sind so viel neue Leute in Passau. Die sind da weniger vorbelastet.“ „Du meinst?“ „Ja. Es ist wieder Quietschiezeit“, raunte ich mit bedeutungsschwerer Stimme und schnäuzte mich mehrmals heftig in ein Taschentuch.

Man erkennt sie gut. Sie laufen noch mit neugierigen Augen durch die Stadt. Der Blick des alten Hasen dagegen ist in der Regel instinktiv auf seine Zehen gerichtet. In Passau trifft man sich, ob man will oder nicht. Niemand kann den eigenen Kommilitonen in wünschenswertem Maß aus dem Weg gehen. Wer erinnert sich da nicht gerne an die eigene O-Woche? Alles ist neu, alle sind auf der Suche nach Anschluss und viel unbeschwerter, als sie es in ihrer Studienzeit jemals wieder sein werden. Nichts ist fest, nichts verbindlich. Wenn einem das Gesicht des Tischnachbarn nicht passt, steht man eben auf und wechselt zur nächsten Gruppe. Die Dollarzeichen in den Augen der Clubbesitzer brennen und die Zapfanlagen stehen nicht mehr still. Passau öffnet die Augen und nimmt den ersten tiefen Atemzug nach beinahe drei Monaten.

Leider hat das unweigerlich zur Folge, dass man sich in den, wenige Tage zuvor noch beklagenswert leeren, Kneipen und Clubs mit einem Schlag nicht einmal mehr auf die eigenen Füße treten kann. Explosionsartig entlädt sich das angestaute Feierpotenzial und trifft auf den Enthusiasmus unverbrauchter Erstsemester. Das Ergebnis ist ein Festival des eventbetonten Schlange Stehens, der Kotztüten und der Schmerztabletten, dem sich auch das bravste Grundschulmausi nicht entziehen kann.  Und danach sind eigentlich erstmal alle krank.

Es ist besonders perfide, dass die Uni ausgerechnet in dieser Zeit von den sturzbetrunkenen Studenten erwartet, Stundenpläne zu erstellen, Veranstaltungen zu vergleichen und allerlei andere Entscheidungen zu treffen. Da wählt der unschuldige Philo-Quietschie zwischen zwei Leberkasempfängen, inklusive Freibier, schon mal versehentlich die optionale Wirtschaftsvorlesung und geht im schlimmsten Fall sogar hin. Auch die älteren Semester können da nicht helfen. Die sind zu dem Zeitpunkt schon längst nicht mehr ansprechbar.

„Aber ist die O-Woche nicht schon vorbei?“, fragte Hubert verdutzt. „Ja. Jetzt ist sie vorbei“, antwortete ich. „Na dann haben die Quietschies sich bestimmt längst eingewöhnt und der Spuk ist vorbei.“ Ich krümmte mich in einer gefährlichen Mischung aus Lachen und Husten. „Ja, Passau hat man schnell drauf.“ „Entschuldige, bitte?“, ein blondes Mädchen mit Brille und Wollmütze sprach mich an. Dabei warf sie ihren Jutebeutel mit bezaubernder Leichtigkeit über die linke Schulter. Die Geste wirkte, wie einstudiert. „Kannst du mir sagen, wo ich das HK finde?“ „Immer geradeaus“, sagte ich und zwang mich zu einem Lächeln. Sie verschwand die Ludwigsstraße hinunter. „Warum?“, fragte Hubert. „Ausgleichende Gerechtigkeit“, antwortete ich, ging nach Hause und legte mich wieder hin.

Mahlzeit.

 

Beitragsbild: Anna Krüger