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Adventsspecial: 100 und eine Weihnacht – Vom Geschichten erzählen und Zusammenhalt

Rebecca Bieling Ressortleiterin Gesellschaft & Politik

Es riecht nach knisternd verbrennenden Tannennadeln. Mein Bauch ist voll von der leckeren Gans, die es zu Mittag gab. Ich weiß, dass wir es als Bauernfamilie nicht immer leicht haben und manchmal müssen meine neun Geschwister und ich uns die Teller teilen. Aber Weihnachten ist immer etwas Besonderes, ob Krieg oder nicht – es gibt so viel zu naschen! Und dieses Jahr bin ich besonders stolz auf unseren Weihnachtsbaum. Wir haben ihn im Wald geholt und selbst geschmückt. In meinen Ohren klingen die Weihnachtslieder, die der Kinderchor in der Kirche immer so schön singt. Aber noch mehr freue ich mich, wenn wir zu Hause Musik machen. Dann spielt mein Vater Akkordeon und Klavier und wir singen alle gemeinsam. Überhaupt ist es so schön, dass wir an Weihnachten alle zusammen sein können!

Felicitas

„Dein Geburtsjahr war kein gutes Jahr“, „Die große Hungersnot war nicht einfach“, höre ich die Stimmen der Erwachsenen in meinen Ohren. „Das weiß ich doch“, denke ich. Hauptsache, wir feiern Weihnachten. Egal, ob es uns gut oder schlecht geht, ich bin mir sicher, dass der Heilige Abend etwas ganz Besonderes wird. Jedes Jahr in der Adventszeit besuchen wir unzählige Metten und wenn der Nikolaus zu uns nach Hause kommt, singen wir für ihn und sprechen ein Gebet. Mein großer Bruder hat solche Angst vor ihm, dass er sich unter dem Tisch versteckt! Und wenn es dann soweit ist, schmücken wir unseren Weihnachtsbaum mit Obst und Gebäck, essen Gänsebraten und singen zusammen. Aber das Tollste sind die selbstgebastelten Geschenke, die den Platz unter unserem Weihnachtsbaum füllen!

Magdalene

Weihnachten ist anders als früher. Mein Papa ist nicht aus dem Krieg zurückgekommen und jetzt sind wir das „5-Mädels-Haus“: meine Mama, meine drei Schwestern und ich. Zum Glück haben wir viele Verwandte, mit denen wir feiern können. Besonders toll ist es, wenn meine Cousins – sie sind Zwillinge – mit meiner Tante Akkordeon und Gitarre spielen und dazu singen! Und natürlich, wenn wir unsere Geschenke auspacken dürfen. Letztes Jahr habe ich mein liebstes Weihnachtsgeschenk bekommen: Ein selbstgebautes Holzgefährt mit Rädern! Manchmal vergesse ich vor lauter Aufregung das leckere Essen. Aber wenn wir unsere eigenen Tiere schlachten, will ich sie sowieso nicht essen. Da schmeckt mir unser Weihnachtsessen am Heiligen Abend viel besser: Kartoffelsalat mit Bockwürstchen!

Ute
Die Nikolausfeier im AWO Seniorenzentrum Betty-Pfleger in Passau

Die Erzählerinnen

Gemeinsam sitzen die drei Frauen während der Nikolausfeier an einem kleinen Tisch im AWO Seniorenzentrum Betty-Pfleger in Passau und erzählen von ihrem Weihnachtsfest. Kennen gelernt haben sie sich erst hier, denn sie kommen aus ganz unterschiedlichen Gegenden. Felicitas Ginella ist die drittälteste von zehn Geschwistern, die teils in Schlesien, teils in Bayern geboren wurden. Ihre jüngste Schwester, die sie mit aufgezogen hat, ist heute 70 Jahre alt. Bis vor kurzem konnte sie ihre Zeit noch mit ihrem Mann verbringen, der im Oktober nach 69 Ehejahren verstorben ist. Magdalene Hehn, 1922 in Franken geboren, hat schon 100 mal Weihnachten gefeiert. Seit sechs Jahren lebt sie im Seniorenzentrum, von dem sie schwärmt: „Ich erkenne die Pfleger am Klopfen, ich kenne hier jeden! Mittwochs gehe ich zur Singstunde und wir feiern viel: Oktoberfest, Ostern, Eistage, Vorlesestunden. Aber Urlaub würde ich mir wünschen!“  Ute Steinhausen ist 82 Jahre alt und in Essen geboren. Mit ihrer Familie wohnte sie in der Nähe der Krupp-Werke, die im Krieg besonders stark bombardiert wurden und evakuiert werden mussten. Bis heute weiß sie nicht, was aus ihrem Vater geworden ist, der nie aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte.

Ute (unten links) und Magdalene (unten rechts)

Eine moderne Weihnachtsgeschichte?

Es sind drei Weihnachtsgeschichten aus drei Jahrzehnten und drei verschiedenen Orten. Und doch merken die Frauen schnell, wie viel sie gemeinsam haben: Es ist eine Zeit gefüllt mit Musik, selbstgemachten Geschenken, gutem Essen und der Familie. „Geschichten halten die Menschen zusammen“, sagt Ute und blickt in die Runde. Zusammenhalt – ein Stichwort, das gerade jetzt aufhorchen lässt. Die Klimakrise, der Krieg gegen die Ukraine und in Nahost, die Corona-Pandemie – die Gräben in der Gesellschaft scheinen immer tiefer zu werden und der Dialog zwischen Andersdenkenden in unerreichbare Ferne zu rücken. Jeder ist entweder Freund oder Feind, die ‚Andersdenkenden‘ sind eine Gruppe, die grundsätzlich abgelehnt wird. Auch die sozialen Medien spiegeln diesen Diskurs wider, werden zur Multiplikation der eigenen Meinung und des Anspruchs, ‚absolut Recht zu haben‘, genutzt. Das kann problematisch werden, wenn wir unsere Kompromissfähigkeit verlieren, immer unzufrieden sind und letztlich keine konstruktive Diskussion mehr führen. Diese sind aber die Grundlage dafür, dass sich eine Gesellschaft gemeinsam weiterentwickeln und verändern kann.

Umfragen der Konrad-Adenauer-Stiftung und eine Studie der Zeit zeigen, dass immer mehr Menschen den Zusammenhalt in Deutschland als mangelhaft empfinden. Doch was wie eine unaufhaltsame Spirale der zunehmenden Uneinigkeit aussieht, hat einen Ausweg. Felicitas, Ute und Magdalene haben es vorgemacht: Sie setzen sich zusammen, erzählen ihre Geschichten und hören ehrlich zu. Denn genau das bringt uns einander näher, lässt uns zusammenrücken und Gemeinsamkeiten erkennen. Das Andere wird plötzlich zum Menschen. Und wer den anderen ihre Menschlichkeit anerkennt, verliert Stück für Stück seinen Hass.

Weihnachten nutzen, um die Zeit des Auseinanderdriftens zu beenden, bewusst zu sprechen und noch bewusster zuzuhören: Kann ein neuer Zusammenhalt unsere moderne Weihnachtsgeschichte sein?