Alles Nazis, oder was? – Ein Besuch bei der Burschenschaft

Als blutiger „Quietschie“, der zudem in einem verschlafenen Dorf in der oberschwäbischen Provinz großgeworden ist, bin ich noch neugierig auf die weite Welt der Hochschulgruppen, die es zu erkunden gilt. Um zeitgleich Neugierde stillen und einen lesenswerten Artikel basteln zu können, liegt dabei ein Besuch  umstrittenerer Gruppierungen nahe: diese verheißen einen interessanten Einblick in die Vielfalt des studentischen Lebens, fernab von den allseits bekannten Veranstaltungen. Besonders vielversprechend erscheint eine der Passauer Varianten der Vereinigung, die erst kürzlich die Gründung ihres deutschlandweiten Dachverbandes bekannt gab und mit einigen Vorurteilen behaftet ist: die Burschenschaft.

Um mir trotz der  – zugegeben – auch bei mir vorhandenen vorgefertigten Bilder einen eigenen Eindruck der Studentenverbindung zu verschaffen, will ich in direkten Kontakt mit deren Mitgliedern und Veranstaltungen treten.  Wie von einem Vertreter meiner Generation wohl nicht anders zu erwarten, informiere ich mich dennoch vorab im Netz über die „Burschenschaft Hanseatia Passau“, wie die ortsansässige Vereinigung, für die ich mich entschieden habe, sich offiziell auf ihrer Website präsentiert. Der Online-Auftritt mit knappen Beschreibungen über Geschichte, Ideale und aktuelle Themen der Burschenschaft hinterlässt den Eindruck einer verschworenen Gemeinschaft, die da „durch gemeinsames Studieren und gemeinsame Freizeitgestaltung die Zeit in Passau unvergesslich“ machen und die „Basis für (…) lebenslange Freundschaft“ schaffen möchte. Ein Besuch der Facebook-Seite, bei dem vor allem das Titelbild ins Auge sticht, welches eine Deutschlandfahnen schwenkende Menschenmasse vor dem Reichstagsgebäude zeigt, nährt die bestehenden Vorurteile, es handele sich um eine schlimmstenfalls nationalistische, bestenfalls sehr traditions- und heimatverwurzelte Gruppierung. Neben der – im schönen Passau ja durchaus nachvollziehbaren – Heimatverbundenheit, scheint man auch dem Bier sehr verbunden zu sein, worauf zumindest die auffallend vielen Bilder und Erwähnungen des flüssigen Goldes schließen lassen. Immerhin gesellt sich nun die Aussicht auf des Studenten Lebenselixier zu den Befürchtungen bezüglich der politischen und ideellen Einstellungen der „Burschen“, was den Entschluss erleichtert, eine der Veranstaltungen vor Ort zu besuchen.

Mit gemischten Gefühlen mache ich mich also auf den Weg zum „Begrüßungsabend“ im burscheneigenen Hanseatenhaus. Die Titulierung der Veranstaltung, ebenso wie der ausdrückliche Hinweis auf der Website, jeder Interessent sei zu Treffen herzlich eingeladen, lassen mich hoffen, dieser Abend sei eine geeignete Möglichkeit, viele Mitwirkenden der Vereinigung persönlich kennenzulernen. Vor Ort stoße ich jedoch nach kurzer Suche zwar auf die vermeintlich richtige, aber verschlossene Tür: es scheint sich offenbar um eine – im wahrsten Sinne des Wortes – geschlossene Veranstaltung zu handeln. Auch beschämtes Nachfragen beim benachbarten „Scharfrichter“ nach dem Eingang zum Haus der Burschenschaft bringt mir neben einem entsetzten Ausruf der Bedienung, die mir immerhin noch den Weg weist, bevor sie kopfschüttelnd die Flucht ergreift, nicht viel ein – außer der neuerlichen Bekräftigung meiner bösen Vorahnungen. Einen raschen Blick durchs Fenster, hinter dem Maskottchen und einige diskutierende Mitglieder zu sehen sind, kann ich noch erhaschen, doch mit dieser mehr als mageren Ausbeute muss ich mich für diesen Abend begnügen – der wöchentlich stattfindende Stammtisch soll mehr Eindrücke liefern.

Dieses Mal kontaktiere ich die Burschenschaft vorab über ihre Facebookseite, um sicher zu gehen, dass der Stammtisch auch tatsächlich der Öffentlichkeit zugänglich ist und erhalte auch umgehend eine bestätigende Antwort. Begleitet von aufgewühlten Gedanken und der wenig beruhigenden Gewissheit, an diesem Abend nun tatsächlich die Vereinigung kennenzulernen, mache ich mich erneut auf den Weg.

Am Hanseatenhaus angekommen wird mir sogleich die Tür geöffnet und ich blicke in die neugierigen Gesichter einer kleinen Runde von fünf Burschen (darunter zwei bereits etwas betagtere Herren, die offiziell nicht mehr Burschen, sondern „Alte Herren“ genannt werden, wie ich später erfahre) und – Überraschung! – auch eine Dame ist anwesend. Ich werde warm und höflich empfangen und noch während ich die Runde mache, um mich vorzustellen, wird mir ein Bier angeboten: erster kleiner Pluspunkt.

Schnell werde ich mit Fragen nach meiner
Motivation, den Stammtisch zu besuchen, ins Gespräch integriert und stelle erfreut fest, dass ich nicht der einzige Ausländer im Haus bin – auch mein Sitznachbar kommt unüberhörbar aus dem schönen Oberschwaben. Der heimische Dialekt lässt mich ihn unweigerlich sympathisch finden, aber auch abgesehen von verbindenden Faktoren, wie die gemeinsame Herkunft, erscheint er mir, genauso wie die anderen Burschen, durchweg freundlich und offen. Und dies, wo ich doch befürchten musste, lauter potentiellen verkappten Nazis gegenüber zu treten und mir in meiner vielleicht etwas stereotypen Sicht auch dementsprechend unaufgeschlossene, raue Gesellen ausgemalt hatte. Doch einen Erstbesucher nicht sofort mit rechten Parolen zu begrüßen und somit die (ohne Zweifel auch den Burschen selbst bekannten) Klischees zu bedienen, scheint logisch und die angenehme Art  muss noch lange nicht von weltoffener, fremdenfreundlicher Gesinnung zeugen. So denke ich mir und nehme mir vor, mich nicht von dem entgegenkommenden Auftreten blenden lassen zu wollen. Währenddessen werden mir von mehreren Seiten gleichzeitig Zigaretten offeriert. Es prasseln Fragen auf mich ein, alle scheinen ehrlich interessiert an meinen bisherigen Eindrücken von Passau und dem Studentenleben, ja es wird betont, dass ich als „Ersti“ auf die Unterstützung der Burschenschaftler höherer Semester zählen könne.

Beim zweiten Bier angelangt, wage ich es, meinen Sitznachbarn nach seinem Urteil über die bestehenden Klischees gegenüber seiner Vereinigung zu bitten. Besonnen wird mir erklärt, er sehe die Gründe dafür in der historischen Mitwirkung der Burschenschaften, welche im 19. Jahrhundert ja für den Traum der nationalen Einheit Deutschlands gekämpft und zur Verwirklichung desselben maßgeblichen Einfluss geleistet hätten. Vage erinnere ich mich, im Geschichtsunterricht von Burschenschaften im Zusammenhang mit dem Wartburgfest oder dem Hambacher Fest gehört zu haben, die Argumentation scheint soweit schlüssig. Weiterhin verweist er auf die tatsächlich oft radikalere Ideologie anderer Burschenschaften, betont aber, bei ihrer „Hanseatia“ handele es sich lediglich um einen Bund von Studenten, welcher hauptsächlich der Gemeinschaft diene. Politische Gespräche am Stammtisch oder kollektive politische Ideale seien nicht mehr und nicht weniger vorhanden, als bei jeder anderen Hochschulgruppe oder Verbindung. Vielmehr stehe die lebenslange Freundschaft und gegenseitige Hilfe im Studium, wie in anderen Lebenslagen, im Vordergrund.

Der größte Unterschied liege heutzutage vor allem in dem größeren Traditionsbewusstsein der Burschenschaften, welches sich beispielsweise im Tragen der Farben manifestiere, führt er weiter aus und deutet auf sein farbiges Brustband. Bei der offiziellen Aufnahme eines Studenten in die Burschenschaft erhalte dieser den Status eines „Fuchses“, sowie das Brustband mit zwei Farben, später komme mit dem Aufstieg in der internen Hierarchie eine weitere hinzu. Sichtlich stolz deutet er abermals auf sein bereits dreifarbiges Band (mehr zu Farben und burscheneigenen Bezeichnungen: http://www.hanseatia-passau.de/couleurstudentisches-lexikon/). Die Bänder, von allen anwesenden Burschen außer den Alten Herren getragen, scheinen in der Tat ein bedeutsames Symbol der Zusammengehörigkeit darzustellen: im Verlauf des Abends betreten noch weitere Aktive das Haus, wobei deren erste Handlung stets darin besteht, sich die „Couleur“ anzulegen. Der Anblick der farbentragenden Burschen ist bis dato die einzige Kleinigkeit, die mir befremdlich ist und mich in meinem zuvor kreierten Bild der auf gemeinsamer ideologischer Ansicht basierenden Verbindung irgendwie bestätigt: nicht umsonst bezeichnet man eine bestimmte Weltanschauung eines Menschen auch als dessen Couleur.

Doch keiner scheint sich mit seinen Farben zeitgleich die befürchtete radikale Geisteshaltung überzustreifen: auch bei allen Folgeversuchen, die Gespräche durch subtile Bemerkungen politisch werden zu lassen, kann ich keine einzige Bemerkung provozieren, die auch nur annährend von einer rechten Gesinnung zeugen würde. Im Gegenteil, die Burschen scheinen mir aufgeschlossene und differenziert denkende Menschen zu sein, die schlichtweg Wert darauf legen, in gegenseitiger Verbundenheit und gestützt von der geteilten Tradition eine lebenswerte Zeit miteinander zu gestalten. Dieser Eindruck verhärtet sich mit jeder Minute, so sehr ich mich auch an mein Bild klammere und nicht wahrhaben will, dass sie mir ein ganz anderes zeichnen, als ich es mir ausgemalt hatte.

Der „Fuchsmajor“ präsentiert mir später bei einer Hausführung noch die Räumlichkeiten und erläutert einige Gepflogenheiten: angesichts der Degen im Eck macht er beispielsweise deutlich, dass es sich bei der Hanseatia zwar um eine „schlagende“ Verbindung handele, aber das Fechten nur noch der Tradition halber gepflegt und nicht in der Regelmäßigkeit anderer Verbindungen ausgeübt werde. Als der Blick auf die reichlich vorhandenen Getränkekisten fällt, klärt er weiterhin auf, dass die Alten Herren mit einem kleinen monatlichen Beitrag für die Finanzierung des Verbundes Sorge trügen. Dank der zahlreichen ehemaligen Burschen seien so jedes Jahr einige Ausflüge realisierbar, sowie der stete Vorrat an Bier garantiert, woran Aktive und Gäste des Hauses folglich kostenlos teilhaben dürften. Da glüht das schwäbische Studentenherz.

Trotz der mittlerweile vergnüglichen Atmosphäre und der nur schwer einzugestehenden Tatsache, dass ich mich wirklich wohl fühle, verabschiede ich mich schließlich von der Runde und werde mit freundschaftlichen Worten entlassen; viele betonen, man freue sich auf ein Wiedersehen. So verlasse ich  – trotz drei getrunkenen Bieren – mit um keinen Cent leichterem Portemonnaie und dennoch rundum erleichtert das Hanseatenhaus und nehme die Gewissheit mit, dass Burschenschaften nichts für mich sind: die ausdrücklich „lebenslängliche“ Verpflichtung, welche man mit einem Beitritt eingeht, schreckt doch ab. Zurück lasse ich allerdings die zuvor gehegten Befürchtungen und Klischees, bei den Burschenschaftlern handele es sich um rechtsradikale Zeitgenossen – zumindest auf die Mitglieder der Hanseatia Passau scheint dies absolut nicht zuzutreffen.

Lange Story, kurzes Fazit: Wenn man es erst mal entworfen hat, sein klischeebehaftetes Bild, kann man vieles so zurechtlegen, dass es sich darin einfügt und dieses komplettiert. Aber bevor man sich ein Urteil erlaubt, sollte man die betreffenden vorschnell Verurteilten immer erst selbst kennen lernen, um, im besten Fall, vom Gegenteil überzeugt und sich mal wieder bewusst zu werden, dass man nicht allem Glauben schenken sollte, was die Mehrheit meint zu wissen. Und dass kostenloses Bier einfach doppelt so gut schmeckt.

Danke, liebe Burschen, für diese lehrreichen Erkenntnisse und den schönen Abend!