Den mentalen Zustand unserer Gesellschaft misst man am besten, indem man versucht, einen Therapieplatz zu bekommen. Was vor der Pandemie schon schwierig war, ist heute fast unmöglich. Seitenlange Wartelisten und hoffnungslos überlastete Praxen sind die Realität für Betroffene. Aber warum gibt es so wenige Therapieplätze, obwohl der Bedarf so groß ist?
Die Antwort auf diese Frage liegt einige Jahre zurück. 1999 wird im Psychotherapeutengesetz festgelegt, wie viele Psychotherapeut*innen in Deutschland arbeiten dürfen. Die Zahl der Therapiepraxen orientierte sich an dem damaligen Bedarf. An diesem Gesetz hat sich seither – bis auf ein paar kleinere Änderungen – nicht viel getan. Dabei entspricht das Therapieangebot längst nicht mehr der hohen Nachfrage. Vor allem in der Pandemie sind immer mehr Menschen auf psychologische Hilfe angewiesen. Eine Umfrage der Deutschen Psychotherapeuten Vereinigung ergab, dass die psychotherapeutischen Praxen im Januar 2021 40 Prozent mehr Anfragen meldeten als im Vorjahr. Im Schnitt erhielt dabei nur jeder vierte Hilfesuchende einen Termin für ein Erstgespräch.
Trotz dieser beunruhigenden Entwicklungen wartet man vergebens auf Lösungen seitens der Politik. Als im Winter die Intensivbetten knapp wurden, ist zurecht Panik ausgebrochen. Wo bleiben nun die Aufschreie, wenn Psychotherapeut*innen jeden Tag Betroffene ablehnen müssen? An der Ernsthaftigkeit der Krankheiten kann es nicht liegen, denn psychische Krankheiten können, ebenso wie körperliche, tödlich verlaufen. 9.041 Menschen haben sich 2019 in Deutschland das Leben genommen. Das sind mehr als durch Verkehrsunfälle, Drogen, Mord und HIV zusammen. Die Gründe für das politische Schweigen liegen also nicht in der Dringlichkeit des Problems, sondern vielmehr in wirtschaftlichem Kalkül. Mehr Therapieplätze würden auch die Kosten für die Krankenkassen in die Höhe treiben und das soll vermieden werden.
Anstatt mehr Psychotherapeut*innen die Arbeit in Deutschland zu ermöglichen, versuchte es Gesundheitsminister Jens Spahn im Mai mit einem Vorschlag zur Verkürzung der Wartezeiten. In einem Gesetzesentwurf zur Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgung schlägt das Gesundheitsministerium vor, Betroffene vor der Therapie in Risikoklassen einzuteilen. Je nach Diagnose würde so eine feste Anzahl an Therapiestunden festgelegt. Jemand, der an einer Depression erkrankt ist, bekäme dann zum Beispiel 15 Stunden zugeschrieben. Bei Betroffenen und Psychotherapeut*innen stieß diese Form der „Rasterpsychotherapie“ auf scharfe Kritik. Denn was Jens Spahn mit diesem Gesetz nicht bedacht hat, ist, dass die Arbeit zwischen einem Therapeuten und seinen Patienten eine höchst intime ist, die ein großes Maß an Vertrauen benötigt. Der Weg heraus aus einer psychischen Erkrankung ist kein gerader. Es gibt Rückschläge, Fortschritte und dann wieder Rückschritte. Statt Druck brauchen Betroffene vor allem Zeit. Der Gesundheitsminister zog seinen Vorschlag wegen der massiven Kritik zwar zurück, für Betroffene und Therapierende war es trotzdem ein Schlag ins Gesicht.
Wer angesichts dieser schleifenden Entwicklungen nicht auf politische Veränderungen warten möchte, kann sich mit einigen Tricks selbst weiterhelfen. Die Wartezeit bis zu einem Therapieplatz kann zunächst mit den psychologischen Beratungsstellen der Caritas oder der Diakonie überbrückt werden. Dort findet zwar noch keine Behandlung statt, aber man findet erste Ansprechpartner. Wer sich dann auf die Anrufs-Odyssee begibt, sollte den Weg bis zu dem begehrten Therapieplatz gut dokumentieren. Nach § 13 Absatz 3 SGB V sind die Krankenkassen verpflichtet, die Kosten für eine Behandlung bei privaten Psychotherapeut*innen zu übernehmen. Dazu muss nachgewiesen werden, dass 1) eine Psychotherapie unbedingt notwendig ist und 2) bei mindestens drei bis fünf kassenärztlichen Therapiepraxen erfolglos angefragt wurde. Um letzteres zu beweisen, sollte bei jedem Anruf der Name des Therapeuten, der Tag und die Uhrzeit der Absage, sowie die angegebene Wartezeit notiert werden. Um die Dringlichkeit der Situation zu dokumentieren, sollte man eine der Akutsprechstunden wahrnehmen, die Psychotherapeut*innen seit 2017 anbieten müssen. Dort bekommt man eine Einschätzung seiner Lage, die man dem Antrag auf Kostenerstattung beilegen kann.
Es ist traurig, dass Betroffene zu solchen Strategien greifen müssen. Auch, wenn psychische Erkrankungen oft schwer fassbar sind: ihre schlimmsten Konsequenzen sehen wir später schwarz auf weiß auf den Sterbeurkunden dieses Landes. Um das zu verhindern, muss das Thema psychische Gesundheit endlich entstigmatisiert und geeignete Maßnahmen getroffen werden. Menschen mit psychischen Erkrankungen haben das gleiche Recht auf Versorgung wie Menschen mit körperlichen Erkrankungen. Die Zahl der Therapeuten muss erhöht werden, unabhängig von den Mehrkosten, die dadurch entstehen.
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