Murad
Murad (Foto: Jonathan Herrmann)

Deutsche Studentin trifft Geflüchteten aus Afghanistan – was wir voneinander lernen können

Murad ist aus Afghanistan geflohen. Die Geschichten, die er mir erzählt, handeln von Unsicherheit, Angst und Gewalt – aber auch von Mitmenschlichkeit, Nächstenliebe und der Sehnsucht nach Freiheit.

 

Ich bin 23 Jahre alt, komme aus einer deutschen Großfamilie mit 6 Kindern und studiere Jura. Meine Eltern sind gläubige Christen; die Mutter Grundschullehrerin, der Vater Postbote.
Ich genieße die Möglichkeiten des deutschen Reisepasses und habe schon in den USA, Tansania und Israel gelebt.
Murad ist 21 Jahre alt und kommt aus Afghanistan. Mit 11 Jahren floh er in den Iran, später in die Türkei und kam schließlich 2015 nach Deutschland – in eine Aufnahmestelle für Minderjährige in das Dorf meiner Eltern.

Über die Kirchgemeinde lernte er meine Mutter kennen. Sie brachte Murad Deutsch, Lesen, Schreiben und Rechnen bei. Anschließend besuchte er die Schule und machte seinen Hauptschulabschluss. Murad freundete sich mit meinen Brüdern (jetzt 21 und 19 Jahre alt) an und besuchte die Familie häufig. Weihnachten 2020 besuchte ich meine Familie. Zu dieser Zeit zog Murad in das Haus meiner Eltern, in die Wohnung meiner verstorbenen Großeltern.

Eines Abends am Esstisch berichtete Murad von seiner Familie in Afghanistan. Vorsichtig fragte ich ihn, ob er Lust hätte mir seine Geschichte zu erzählen, in einem Interview.

29.12.2020

19:00 Uhr

Wir sitzen in seinem Wohnzimmer im Haus meiner Eltern. Es ist kalt. Murad sitzt in seinem Schlafsack auf der Couch, eine Tasse Schwarztee in den Händen – Ich sitze ihm gegenüber, in meine Bettdecke eingehüllt, und frage noch einmal nach, ob es okay ist, wenn ich unser Gespräch aufzeichne.

Murad sitzt nach vorne gebeugt. Er weiß nicht so richtig, wo er anfangen soll. Seine schwarz glänzenden Haare fallen ihm in die dunklen kastanienfarbenen Augen. Wie so viele zurzeit, trägt auch er die Corona-bedingte ausgewachsene Kurzhaarfrisur.

Ich: Hast du damals mit 11 Jahren selbst entschieden, von Afghanistan wegzugehen?

Murad: Nein, meine Mutter hat das entschieden. Mein Vater war gestorben, nachdem die Taliban ihn verprügelt hatten. Mein Onkel war ein Taliban und hat versucht, mich zu rekrutieren. Sie brauchen die Jungs, um ihnen von klein auf den Koran beizubringen. Die lernen anders als Erwachsene. Ich war schon ein paar Monate bei meinem Onkel, dann haben mein Bruder und meine Mutter gesagt, dass ich weggehen muss, damit ich kein Taliban werde.

 

Eine Stunde lang erzählt Murad von seiner Flucht. Erst wollte er nur in den Iran, musste dort aber wiederum vor Polizeigewalt und Diskriminierung fliehen. Zwei Jahre lang lebte und arbeitete er in der Türkei. Es ging ihm recht gut dort, aber das Land bot ihm keine Zukunftsperspektive, keine Bildung, keine realistische Möglichkeit auf ein langfristiges Bleiberecht. Er arbeitete auf Baustellen und sparte Geld. Damit bezahlte er einen türkischen Schlepper. An Bord eines winzigen Bootes setzte er im Jahr 2015 von der Türkei nach Griechenland über. Anschließend machte er sich auf nach Deutschland.

Der Anfang war schwer. Die ersten drei Jahre waren geprägt von Einsamkeit, von der Angst, abgeschoben zu werden. Weil er fürchtete, er könnte falsch verstanden werden und jemand könne seine Worte gegen ihn verwenden, sprach Murad lieber gar nicht und lernte nur langsam Deutsch. Erst als er nach dem entscheidenden Interview beim BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) seine Aufenthaltserlaubnis bekam, konnte er anfangen, wirklich anzukommen. – Erstmals öffnete er sich anderen gegenüber.

Sein Deutsch reicht mittlerweile  für eine tiefergehende Unterhaltung. Nur manchmal suchen wir gemeinsam nach Worten, wie „Schlepper“ oder „Kofferraum“. Hin und wieder fügt er hinzu, ich sei die erste Person, der er dieses oder jenes erzählt. Ich habe ihn lange als schüchtern und verschlossen wahrgenommen, aber in unserem Gespräch ist Murad offen und direkt. Aufmerksam und wild gestikulierend gibt er mir einen Einblick in sein Leben.

 

„Was ist in Afghanistan ganz anders als hier?“

Mich interessiert, wie sich meine Lebensrealität in Deutschland von der in Afghanistan unterscheidet – und was Murad auf der Flucht durch all diese Länder über das Leben selbst gelernt hat.

 

Ich: Ich weiß wenig über Afghanistan. Du kennst ja Deutschland und besonders auch meine Familie sehr gut, und deine Familie in Afghanistan kennst du ja auch. Was ist in Afghanistan ganz anders als hier?

Murad: Wo soll ich da anfangen… Was mich etwas verwirrt hat, war, dass in eurer Familie im Alltag so viele Schimpfwörter genutzt werden und gestritten wird. In Afghanistan ist es unmöglich, mit Älteren zu sprechen. Auch wenn Geschwister nur so ein, zwei Jahre älter sind… man redet nicht miteinander oder macht Spaß zusammen. Es gibt so eine starre Hierarchie. Ich erinnere mich nicht, mit meinem Vater jemals mehr als zwei Wörter gesprochen zu haben. Ich hatte immer Angst vor ihm und wurde viel geschlagen.
Hier ist das ganz anders. Hier könnt ihr gut diskutieren und für euch selbst einstehen.

Ich: Denkst du manchmal, dass wir hier zu wenig Respekt vor Älteren haben?

Murad: Nein. Ich finde es echt cool, dass man in Deutschland etwas sagen kann, seine Wünsche äußern kann, etwas machen kann. Jeder lebt für sich und vertritt sich selbst.
Diese Freiheit, sich ausdrücken zu können, ist wertvoll. Natürlich ist Respekt gut. Aber so stark, wie diese Hierarchie in Afghanistan gelebt wird, ist es schlecht. Es lähmt, so zu leben.

 

Murad erzählt vom Ziegen hüten, von der Trockenheit auf den Feldern und stillen Familienessen mit Vater, zwei Müttern und 15 Kindern.

 

Ich: Warst du denn gar nicht in der Schule?

Murad: Die Eltern haben Angst, ihre Kinder in die Schule zu schicken – wegen der Taliban. Meine großen Brüder waren in der Schule und dafür wurde mein Vater von den Taliban schlimm geschlagen. Ich wollte immer in die Schule gehen, aber mein Vater hat es verboten, weil er Angst hatte. Er war bewusstlos geschlagen worden und seine beiden Frauen, meine Mütter, haben ihn nach Hause getragen. Er war voller Blut. Nachdem mein Vater gestorben war, hatte ein Imam vorgeschlagen, dass ich und mein kleiner Bruder in die Schule gehen könnten. Dann habe ich mich selbst angemeldet und war so zwei Jahre in der Schule. Dann gab es wieder zu viel Krieg und die Schule musste schließen.

 

„Ich habe den Krieg nicht angefangen und ich kann ihn auch nicht beenden.“

Murad erzählt, dass die Taliban allgemeinbildende Schulen verbieten und eigene Schulen aufbauen, in denen nur Koran unterrichtet wird und die Ideologie der Taliban den Kindern früh eingepflanzt wird.

 

Ich: Wünschen sich manche Afghanen, dass die Taliban einfach gewinnen und regieren würden, damit der Krieg aufhört?

Murad: Die meisten Menschen wollen die Taliban dort nicht haben, weil sehr strenge Regeln durchgesetzt werden. Nur Koran darf gelernt werden, alle müssen streng muslimisch sein… Von meiner Familie mag niemand die Taliban, aber sie haben Angst, etwas gegen sie zu sagen. Würden sie etwas gegen die Taliban sagen, wäre die ganze Familie innerhalb kürzester Zeit tot. Ich kenne einen aus meiner Stadt, der ist zur Regierung gegangen. Wenige Monate danach – war seine ganze Familie tot.

Ich: Kommt es auch vor, dass die Regierung tötet, weil jemand gesagt hat, er könne die Regierung nicht leiden und wäre lieber bei den Taliban?

Murad: Das dürfen die nicht. Also offiziell machen sie das nicht. Aber sie bringen viele Menschen um und rechtfertigen sich, indem sie sagen, dass sie dachten, das wären Taliban gewesen. Manchmal sind das Menschen ohne Waffen. Gerade bringt die Regierung mehr Menschen um als die Taliban.

Ich: Manchmal streite ich mit Menschen, die sagen, dass es ja die Schuld der Afghanen sei, dass es ihrem Land so schlecht geht. Manche sagen, dass du kein Recht hättest, nach Deutschland zu kommen, sondern lieber in deinem Land für Frieden sorgen solltest. Was würdest du solchen Menschen sagen?

Murad: Also in meiner Stadt, zum Beispiel in meiner Familie, will niemand Krieg. Keiner von ihnen hat je gesagt: „Das wünsche ich mir!“ Alle haben immer gesagt, dass der Krieg schlimm ist. Natürlich sind die Leute, die Krieg führen in Afghanistan, auch Afghanen, aber das sind halt bekloppte Menschen… Ich habe den Krieg nicht angefangen und ich kann ihn auch nicht beenden. Ich muss ja irgendwo leben. Wenn ich sage: „Taliban, ihr seid scheiße; geht weg von uns!“, dann bringen sie mich um. Davon geht der Krieg auch nicht vorbei. Und wenn ich eine Waffe in die Hand nehme und mich wehre, dann mache ich auch Krieg. Es ist schwierig. Wenn ich mich mit der Waffe gegen die Taliban stelle, dann bin ich Polizei. Wenn ich mit den Taliban kämpfe, bin ich Taliban. Und wenn ich sage, ich finde beide blöd und kämpfe gegen beide, dann bin ich weg. Keine Chance.

Ich: Warum gehen Menschen zu den Taliban?

Murad: Die Taliban reden von Frieden und von einer besseren Welt. Wenn du ihnen zuhörst- denkst du, die Welt wäre nur für dich geschaffen worden. Ich selbst war ja nicht lange bei den Taliban, 2-3 Monate bei meinem Onkel. Die erzählen schöne Sachen. Und ich war ja auch klein. Ich hatte immer Angst vor meinen Eltern und vor anderen Menschen. Und dann denkst du dir: was die erzählen, klingt so schön. Ich will Teil dieses Lebens sein, dieser Welt, die sie versprechen. Sie haben Spaß und Gemeinschaft und keine Angst, weil sie sagen, dass sie in das Paradies kommen, wenn sie sterben, da sie ja für die richtige Sache kämpfen.
Wenn du in diesem Leben stirbst hast du ein ewiges Leben. Du kriegst viele Frauen und so. Was will man mit 71 Frauen?

Ich: Da zieht sich alles in mir zusammen… Frauen kann man doch nicht einfach so bekommen. Ich bin ein Mensch, der denkt, fühlt, Entscheidungen trifft, handelt, und kein Ding, das irgendein Mann bekommen kann.

 

„Meine Schwester hat auch ein Herz, das lieben will.“

20:00 Uhr

Murad erzählt von einem Freund, der auch aus Afghanistan fliehen musste. Er hatte geheiratet und dabei war es üblich, dass der Mann Geld an die Eltern der Frau zahlte. Viel Geld. Murad schätzt den üblichen Betrag auf 10.000€. Sein Freund hatte versprochen, das Geld zu zahlen. Als er nach einiger Zeit dazu immer noch nicht imstande war, wandte sich die Familie seiner Frau an die Taliban. Sie sollten den Freund zum Zahlen zwingen. Er hatte das Geld nicht und musste fliehen und seine Frau und ihr gemeinsames Kind zurücklassen.

 

Murad: In Afghanistan werden Frauen sehr früh verheiratet. In der Stadt meiner Familie sind sie häufig erst 13 oder 14 Jahre alt. Meine Mutter war erst 12, als sie meinen Vater geheiratet hat.

 

Kinderehen sind illegal, aber in Afghanistan weit verbreitet: Ein Drittel der afghanischen Mädchen heiratet vor dem 18. Geburtstag“, schreibt UNICEF Afghanistan. In einem Bericht aus dem Jahr 2019 wird die Geschichte von Badro erzählt, einem afghanischen Mädchen, das bereits mit fünf Jahren verlobt wurde – mit einem 30 Jahre älteren Mann. Die Eltern sahen sich hierzu gezwungen, da Krieg und Trockenheit sie in Hunger und Schulden trieben und die Familie so ihr Überleben sichern wollte.

 

Murad: Ich kenne viele Töchter, die so verkauft wurden. Weil die Familie Geld braucht. Es gibt Männer, die sind Mitte 30 und haben schon eine Frau und dann heiraten sie nochmal mit 13-jährigen Kindern. Das ist so ekelhaft! Und unfair…

Ich: Hast du schon in Afghanistan so gedacht?

Murad: Als Kind habe ich mir über so etwas gar keine Gedanken gemacht. Erst in der Türkei habe ich gemerkt, dass es falsch ist, Mädchen so jung zu verheiraten –  besonders gegen Geld. Ich habe dort einen Film gesehen, in dem ein witziger Schauspieler gesagt hat, dass eine Frau, ein Mensch, ja nicht wie ein Tier verkauft werden kann. Da habe ich viel drüber nachgedacht und festgestellt, dass ich das auch so sehe.

 

Murad erzählt von seiner 14-jährigen Schwester. Sein großer Bruder will, dass sie verheiratet wird, so wie es Tradition ist. Murad ist dagegen und seine Mutter, die seit dem Tod des Vaters die Entscheidung innehat, auch.

 

Murad: Die Regeln sind mir egal. Meine Schwester hat auch ein Herz, das lieben will. Hier geht es schließlich nicht um ein Jahr oder so, sondern um ihr ganzes Leben!

 

21:00 Uhr

Unser Schwarzteekonsum macht eine Klopause nötig. Ich beeile mich, um nicht zu vergessen, wo wir stehen geblieben waren. Hunger habe ich nicht, dazu ist es viel zu spannend. Murad denkt kurz nach, während ich mich wieder in die Decke einrolle.

 

Murad: Vorgestern habe ich mit ein paar Freunden über Skype telefoniert. Alte Freunde aus Afghanistan, die mittlerweile alle im Iran leben. Ich fragte, was sie tun werden, wenn sie Kinder haben. „Wie werdet ihr euch verhalten“, fragte ich. „Werdet ihr sie verkaufen?“ Ich habe erzählt, was ich in der Türkei gelernt habe und wie es in Deutschland ist und dass ich das gut finde. Sie waren nicht überzeugt. „Die Regeln und unsere Tradition sagen, dass es richtig ist so! So haben unsere Väter es getan und so werden wir es auch tun“, haben sie gesagt. Ich antwortete, dass es aber doch echt verrückt ist und dass wir nicht immer alles gleich machen müssen wie unsere Eltern. Herausfordernd fragte ich, ob sie denn nur Kinder haben wollen, um Geld zu verdienen. „Nein“, haben sie geantwortet. „Aber die Regeln sind eben die Regeln.“ „Aber Regeln kann man doch immer verändern“, habe ich gesagt. Ein Freund schlug vor, dass wir ja unsere Kinder einander heiraten lassen können und dann kein Geld dafür bezahlen. Ich habe den Kopf geschüttelt und erklärt, warum ich das genauso dumm finde. „Also wenn ich mal eine Tochter habe, kann sie selbst entscheiden und heiraten, wen auch immer sie will“, habe ich gesagt. Meine Freunde fanden das verrückt. Die Regeln und Bräuche sind so tief drinnen, obwohl das auch junge Menschen sind, meine Freunde. Sie sagen, dass sie sich so verhalten müssen, weil sie Muslime sind. Aber das ist doch Quatsch. Im Koran steht nicht, dass man seine Kinder verkaufen soll. Am Ende unseres Gespräches haben ein paar von ihnen gesagt, dass sie es so machen werden wie ich und ein paar haben gesagt, dass sie sich an die Tradition halten wollen. Das fand ich richtig cool, dass ich sie ein bisschen überzeugen konnte. Das hat mich glücklich gemacht.

 

In diesem Moment empfinde ich unglaublichen Respekt für diesen jungen Menschen und kann kaum fassen, wie er bei all der Angst und dem Stress und den Schwierigkeiten die Kraft aufbringt, Normen und Prägungen immer weiter zu hinterfragen und sich seine eigene Meinung zu bilden.

 

„Gott will niemals Krieg. Da bin ich mir sicher.“ 

21:30 Uhr

Wir reden über Religion. Ich bin christlich erzogen worden, er muslimisch.

Ich: Glaubst du an Gott? An Allah?

Murad: Ja, ich glaube an Gott, aber nicht, dass er Krieg will. Die Taliban sagen ja, dass sie im Auftrag Gottes Krieg führen, aber das kann nicht stimmen. Gott hat uns erschaffen, um auf der Erde zu leben, nicht um uns gegenseitig und unser Zuhause zu zerstören. Gott will niemals Krieg. Da bin ich mir sicher.

In Afghanistan verstehen weniger Leute, was wirklich im Koran steht, weil sie kein Arabisch können – Also glauben sie, was man ihnen erzählt. „Bring keinen Menschen um!“, das sagt niemand. Dann musst du 8 Jahre ins Gefängnis, ja. Aber es ist keine absolute Regel, so wie dass Frauen Kopftuch tragen müssen. Das ist doch Quatsch. Warum versteht niemand, dass wir einander nicht töten dürfen?
Wenn einer einen Menschen tötet, sagt niemand was; wenn eine Frau ohne Kopftuch draußen herumläuft, kommen sie mit Steinen raus. Das ist echt verrückt.

Ich: Ich frage mich manchmal, wie es dazu gekommen ist. Irgendwann müssen sich Menschen das ja ausgedacht haben…

Murad: Oft steht es im Koran. Viele sagen, dass der Koran von Gott geschickt wurde und eine absolute Wahrheit darstellt. Woher weiß man das? Es könnte doch auch sein, dass er geschrieben worden ist. Ich denke oft darüber nach, ob nicht vielleicht doch ein Araber den Koran geschrieben hat. Wenn das so wäre, wäre es ja falsch, zu behaupten, Gott hätte es geschrieben. Der Mensch hätte ja sagen müssen: „So hat Gott zu mir gesprochen“, oder so. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Gott die Zeit hat, so wie ich jetzt ein Interview zu führen…

Ich: Ich sehe mich als Teil der Menschheit. Alle Menschen sind meine Brüder und Schwestern. Wir sind eine Familie und ich will, dass es uns allen gut geht. Und ich denke, dass es auch das ist, worum es in Religionen gehen sollte. Institutionelle Religionen wie Christentum oder Islam sagen das vielleicht auch und enthalten viele gute Wahrheiten, aber sie bewirken auch Abgrenzung und Teilung: „Ich glaube das Richtige. Ich habe etwas verstanden, was andere nicht verstanden haben. Das macht mich zu etwas Besserem und ich muss gegen die anderen etwas unternehmen.“ Ich bin keine Christin mehr, weil ich ein Teil der Welt bin – Teil von Existenz. Ich will mich nicht abgrenzen. Und wie du sagst, ist Religion etwas Persönliches. Es geht nicht nur um Regeln und darum, wer was gesagt hat. Wenn du an Gott glaubst, ist er auch für dich da; hat dich geschaffen und respektiert dich, auch wenn du Dinge hinterfragst oder kein Kopftuch trägst oder so.

Murad: Der Koran sagt gute und schlechte Sachen und ich halte mich an die Guten und die Schlechten sind mir scheißegal. Und natürlich gibt es Regeln, wie dass man keinen Alkohol trinken soll oder so, da weiß ich nicht genau, ob das gut ist oder schlecht.
Aber vor dem Koran haben ja auch schon Menschen gelebt. Für viele Tausende Jahre vielleicht. Ich denke nicht, dass alle diese Menschen vor dem Koran in die Hölle gegangen sind, weil sie nicht an Gott geglaubt haben. Sie hätten es ja nicht wissen können. Und Gott hat ja nicht alle diese Menschen geschaffen, nur um sie in die Hölle zu schicken. Das wäre ja dumm. Das ist so unverständlich.

Ich: Ich finde es beeindruckend, wie du dir deine eigenen Gedanken machst.

Murad: Ich denke manchmal: Wenn ich jetzt Präsident wäre in Afghanistan, würde ich alles anders machen. Ich würde keinen Krieg führen. Das Leben ist ja viel schöner, wenn man anderen Menschen helfen kann.

 

Haben wir es verlernt in einer Gemeinschaft zu leben?

Murad: Hier in Deutschland fällt mir manchmal auf, dass Menschen sich einander nicht helfen. Zum Beispiel alten Menschen im Bus. Ich habe einmal gesehen, wie eine Oma im Bus hingefallen ist und niemand ging, um ihr zu helfen. Ich fand das so komisch. Ich meine, du selbst bist ja auch irgendwann alt und fällst vielleicht hin, würdest du dann wollen, dass alle einfach wegschauen und niemand dir hilft? Das ist doch blöd… Ich saß ganz hinten im Bus, recht weit weg von ihr, aber ich bin aufgestanden, zu ihr gegangen und habe ihr geholfen aufzustehen und sie war so dankbar! Sie hat bestimmt 100-mal danke gesagt. Das hat mich sehr glücklich gemacht.

Ich: Ja, manchmal leben wir in Deutschland zu sehr für uns selbst. Individuelle Freiheit ist gut, aber manchmal vergessen wir, dass wir darauf angewiesen sind, einander zu helfen – dass wir in einer Gemeinschaft leben. Das habe ich in anderen Ländern, wie zum Beispiel Israel, auch ganz anders erlebt. Da haben die Menschen einander mehr geholfen.

 

„Was würdest du verändern wollen?“

Ich habe an diesem Abend schon viel von Murad gelernt. Nun wird mir bewusst, dass nicht nur ich persönlich, sondern wir als Gesellschaft von ihm und anderen Geflüchteten oder generell Ausländern lernen können. Es scheint mir wichtig, dass Menschen hierherkommen, die unsere Lebensweise hinterfragen und mit anderen Werten aufgewachsen sind. Indem ich anderen zugehört habe, habe ich gelernt aus verschiedenen Varianten des Zusammenlebens das Beste herauszusuchen.

 

Ich: Stell dir mal vor, du würdest in einigen Jahren, vielleicht mit Familie, nach Afghanistan zurückkehren. Wie würdest du dich verhalten? Was würdest du verändern wollen?

Murad: Ich glaube, dass es in Afghanistan sehr schwer wird, die Bräuche zu ändern. Sie würden denken, dass ich kein richtiger Muslim mehr bin, und ich bekäme richtig Ärger. Zum Beispiel habe ich neulich mit einem alten Freund von mir telefoniert und habe ihm von meinem Gedanken erzählt, dass der Koran ja vielleicht von Hand geschrieben worden ist und nicht direkt von Gott. Er hat so schnell reagiert und gesagt, dass ich kein Muslim mehr bin. Er hat gesagt, ich dürfe mich nicht mehr Muslim nennen und dass, wäre ich da, er mich für meine Ketzerei direkt umbringen würde. Er war mal ein richtig guter Freund von mir… Ich habe gesagt: „Was laberst du? Das war doch nur eine Idee von mir… Ich bin immer noch Muslim.“ Aber er meinte: „Nein. Du bist nicht mehr Muslim“. Jetzt haben wir lange nicht mehr telefoniert. Er war so lange in der Koranschule, dass diese Gedanken zu tief in ihm eingegraben sind. Sein Kopf funktioniert nicht mehr richtig.

Ich: Ich denke, dass so etwas auch ganz viel mit Angst funktioniert. Er hat so oft gehört, dass er in die Hölle kommt, wenn er sich nicht an die Regeln des Islam hält, dass er Angst hat, diese zu hinterfragen, alleine schon der kleinen Möglichkeit halber, dass er dafür in die Hölle kommt. Ich glaube, es ist wirklich so wie du sagst, dass sein Kopf nicht mehr richtig funktioniert, weil die Angst ihn lähmt, am Nachdenken hindert.

Murad: Genau. Ja, das ist wirklich sehr schwierig. Würde ich hinfahren und sagen: das ist falsch und das ist falsch und das muss so sein… dann bekomme ich richtig Ärger. Sie würden mich vielleicht nicht direkt umbringen, wenn es keinen Krieg mehr gibt, aber ich wäre wahrscheinlich auch nicht willkommen, wenn sie denken, dass ich sie von ihrer Religion abbringen will oder so.

Ich: Fändest du es gut, wenn Afghanistan nicht mehr muslimisch wäre?

Murad: Wichtig finde ich, dass die Menschen mehr Rechte haben als ein Buch; dass Menschen am wichtigsten sind und dann kommt die Religion. Ein Leben ist ein Leben: Tiere, Menschen… die müssen leben. Gott hat das Leben gegeben; nur Gott kann es nehmen. Aber niemand muss anderen wehtun oder sie umbringen. Ich würde sowas gerne ändern, wenn ich könnte…

 

„Was erhoffst du dir von deiner Zukunft?“

22:30 Uhr

Es ist spät geworden. Ich überlege, ob er sich ohnmächtig fühlt – Wie er mit diesem Lebensgefühl umgeht.

 

Ich: Was erhoffst du dir von deiner Zukunft?

Murad: Ich hoffe, es läuft gut: dass ich eine Ausbildung machen kann und eine gute Arbeit finde. Und danach will ich einfach in Frieden leben: Genießen; keinen Stress machen; einfach das Leben auf mich zukommen lassen, so wie es läuft. Dafür habe ich gar nicht so viele Ideen. In Afghanistan vor so 10 Jahren hätte ich nie gedacht: Morgen fahre ich in den Iran, übermorgen in die Türkei und überübermorgen nach Deutschland. Das hätte ich nie für möglich gehalten, aber so ist es passiert. Wie kann ich das geschafft haben: nach Deutschland zu kommen? Ich hatte so ein schweres Leben… konnte nie etwas machen… hatte kaum Geld und immer Angst. Ich habe irgendwas gearbeitet, irgendwie überlebt. Und jetzt bin ich hier – das war Schicksal oder so. Ich bin jetzt zufrieden. Ich habe viel mehr geschafft, als ich je für möglich gehalten hätte. Ich habe so viele gute Menschen kennengelernt. Ich kann jetzt ganz anders denken als früher. Ich hoffe, dass noch mehr schöne Zeiten und Spaß kommen – dass ich ein gutes Leben habe.

 

Wir reden noch kurz über seine Familie. Murad hat Angst um sie, kann häufig nicht schlafen und ruft sie nachts an, weil gerade wieder die Front durch ihre Stadt verläuft und täglich Menschen sterben.

 

23:00 Uhr

Ich bedanke mich für sein Vertrauen, wir umarmen uns. Gemeinsam gehen wir runter in die Küche meiner Eltern und machen uns schnell noch ein Brot zum Abendessen. Dann setzen wir uns zu meinen Brüdern ins Wohnzimmer an den Tisch und spielen noch eine Weile UNO mit Zwischenwerfen. Ich verliere dauernd, weil ich die ganze Zeit etwas abgelenkt bin davon, wie natürlich Murad hier als Teil von uns sitzt und mit uns lacht und wie in diesem jungen Menschen so viele Erfahrungen verborgen sind, die ich mir auch nach unserem langen Gespräch kaum ansatzweise vorzustellen vermag: was er alles schon durchgemacht hat; wie viel Angst er schon in seinem Leben hatte und immer noch hat. Ich empfinde einen unglaublichen Respekt für diesen wundervollen Menschen und eine tiefe schwesterliche Liebe und Dankbarkeit, ihn kennen zu dürfen und durch seine Erfahrungen auch bereichert zu sein.