Bild: Lara Wiebke

Erst Brexit, dann Corona – Großbritannien in der Krise

Eine Millionen Menschen protestieren auf dem Parliament Square in London. Es ist der 19. Oktober 2019 und die Stimmung ist aufgeheizt. Hunderte EU-Flaggen wehen im Wind, die Menschen versuchen, durch lauten Gesang und Geschrei die Politiker in Westminster auf sich aufmerksam zu machen. Ein vereinzelter Brexit Fan steht, bewaffnet mit einer englischen Flagge, am Rand der Menge und grinst schadenfroh. Denn er weiß, was alle Demonstranten bei dieser einen von vielen Protestveranstaltungen auch wissen: der EU-Austritt lässt sich nicht mehr aufhalten.

Zum Ende des Jahres 2020 haben sich die EU und Großbritannien kurz vor Ablauf der letzten Frist nun doch noch auf einen Brexit Deal geeinigt. Nach vier Jahren Zitterpartie, Diskussion und Protest, mag nun zwar endlich klarer sein, wie die zukünftigen Beziehungen zwischen der Insel und dem Kontinent aussehen werden, doch damit sind die Probleme der Briten noch lange nicht gelöst. Von Beginn an war Großbritannien besonders stark von der Corona Pandemie betroffen, nun scheint eine neue gefährliche Mutation des Virus dort um sich zu greifen. Dazu kommt die Spaltung der Gesellschaft zwischen „Brexiteers“, die den Austritt aus der EU feiern, und EU-Befürwortern, die sich von der Regierung im Stich gelassen fühlen.

Während meines Auslandssemesters in London habe ich Studierende über ihre Meinung zum EU-Austritt und der Zukunft des Landes befragt. Auf den ersten Blick würde man vermuten, dass auf dem sehr liberalen und weltoffen geprägten Campus des University College London der Konsens herrscht, dass der Brexit eine politische Katastrophe ist. Doch einige Studenten waren anderer Meinung.

Auf der Suche nach Brexit Befürwortern wird man in der politischen Hochschulgruppe „UCL Conservative Society“ schnell fündig. Während eines Pub Treffens der konservativen Gruppe lernte ich Peter kennen, der begeistert war, dass sich eine Frau für die Themen der Konservativen interessierte. Dieser Enthusiasmus schwand, als sich herausstellte, dass ich in erster Linie an den persönlichen Meinungen der Mitglieder zum Brexit und nicht an einer kostenpflichtigen Mitgliedschaft interessiert war. An einem persönlichen Interview zeigte sich niemand interessiert. Dennoch lud mich Peter zu der Diskussionsrunde „Fresher’s Port & Policy: Leaving the EU without a deal“ ein. Debattiert wurde das Thema, ob die EU-Mitgliedschaft mit oder ohne einen Deal mit der EU beendet werden sollte. Die Diskussionsetikette war streng und orientierte sich an den Abläufen im House of Commons: Abwechselnd traten Befürworter und Gegner eines Brexit-Deals auf die Bühne und mussten innerhalb von wenigen Minuten ihre Argumente vortragen. Der Vorsitzende des Clubs thronte mit einem Richterhammer über der Veranstaltung, den er einsetzte, um eine neue Runde einzuläuten oder die Zuschauer mit der Anweisung „Order! Order!“ in die Schranken zu weisen.

Derweil hantierte Peter mit 16 Flaschen Portwein, den er großzügig an alle Zuschauer ausschenkte. Bereits eine gute halbe Stunde später waren die Anzug-tragenden Zuschauer reichlich angetrunken und mischten sich in die Diskussion ein. Sprecher, die sich gegen einen Deal mit der EU aussprachen, wurden vom Publikum angefeuert, während sich die gegnerische Seite einige Sprüche anhören musste.

Die Diskussionsteilnehmer, die der Meinung waren, Großbritannien würde ohne einen Deal besser dastehen, zeigten sich sehr patriotisch. Es sei Zeit aus der Schreckensherrschaft der EU zu entkommen (Zitat: „It’s time to escape the yoke of the tyrannical European Union“) und das Land wieder im eigenen Interesse zu regieren. Argumente der Gegenseite, dass ein Brexit ohne Deal der Wirtschaft und der Beziehung zu Irland besonders schaden würde, konnten weder die anderen Diskussionsteilnehmer noch die besonders lautstarken Brexiteers in der Sitzreihe vor mir überzeugen. Der Abend erreichte seinen Gipfel der Absurdität, als eben jene Brexiteers aus dem Nichts die britische Nationalhymne anstimmten. Bei der anschließenden Meinungsumfrage stellte sich überraschenderweise heraus, dass die deutliche Mehrheit der Anwesenden für einen Deal mit der EU waren. Dies verdeutlichte, wie die Minderheit der radikalen Brexiteers mit lauten Parolen die Diskussion dominieren konnte. Trotz dieses Ausgangs war es offensichtlich, dass die konservativen Studenten zum Großteil hinter dem Brexit standen, bloß nicht alle hinter Boris Johnson. Vielen konservativen Studierenden schien es unangenehm zu sein, ihre politische Einstellung zum Brexit offen zuzugeben. Nur unter erheblichem Alkoholeinfluss und umgeben von Gleichgesinnten, zeigten mir die Anwesenden wie sie wirklich über die Lage ihres Landes dachten.

Auf der Gegenseite der Brexit Befürworter stehen Studierende, die sich wegen des Brexits große Sorgen machten. Die zwanzigjährige Hannah aus Nordirland berichtete mir von der Verwirrung und dem Misstrauen, die das Brexit Referendum in der britischen Politik verursacht haben: „Brexit has created more problems than it has solved.“ In Irland haben die Brexit-Diskussionen alte Konflikte zwischen den Iren, die sich ein vereinigtes und unabhängiges Irland wünschen, und jenen, die sich als Briten identifizieren, angefacht. Hannah berichtet von einer Stadt nahe ihrem Heimatdorf, indem die Hälfte der Häuser mit der irischen Fahne und die andere Hälfte mit dem Union Jack geschmückt ist. Die Spaltung der Stadt steht symbolisch für die Spaltung eines ganzen Landes. Während der zähen Brexit-Verhandlungen fürchteten viele Iren, dass der Brexit zu der Errichtung einer physischen Grenze zwischen den beiden Landesteilen führen könnte, was soziale Unruhen befeuern würde.

Hannah bemängelt, dass der komplexe Austritt Großbritanniens aus der EU auf die simpel klingende Frage „Leave or Remain?“ heruntergebrochen wurde. Die komplexe Entscheidung wurde einem Volk in die Hände gelegt, das sich mit den politischen Abläufen in der Union nicht im Detail auskenne und ihrer Meinung nach zudem von Medien und Politikern gezielt fehlinformiert wurde. Brexit-Befürworter hätten große politische Versprechen gegeben, wie etwa einen Ausbau des britischen Gesundheitssystems, der NHS, welche sich nach dem Referendum nie realisiert hätten.

Dass die NHS trotz Boris Johnson stolzer Ankündigungen, über vier Jahre nach dem Referendum noch immer marode ist, zeigte sich vor allem zu Beginn der Corona-Krise. Es fehlte an Krankenhausbetten, an Beatmungsgeräten und anderem wichtigem medizinischem Equipment. Doch der Premierminister verharmloste das Corona-Virus lange Zeit und schien zu glauben, dass gründliches Händewaschen während man „Happy Birthday“ singt, einen ausreichenden Schutz gegen eine globale Pandemie darstellen würde. Als Johnson schließlich am 23. März doch den ersten Lockdown einleitet, hat sich das Virus schon stark verbreitet. Die Todeszahlen steigen rapide an und liegen Ende des Jahres bei über 65.000 (vergleichsweise liegt Deutschland etwa bei der Hälfte). Mittlerweile befinden sich Teile Englands wieder in unterschiedlichen Lockdown-Stufen und es wurde eine aggressive Mutation des Corona Virus entdeckt, von der man annimmt sie würde sich bis zu 70% schneller verbreiten. Als Frankreich aufgrund dieser Entwicklungen am 20. Dezember die Grenze nach Großbritannien schloss, steckten hunderte LKWs in Dover fest. Solch ein Bild hatte man auch nach dem Auslaufen der Brexit-Übergangsphase vermutet, doch ein solches Worst-Case Szenario scheint nun abgewendet worden zu sein. Der neue Brexit Deal umfasst 1246 Seiten und regelt unter anderem den zukünftigen Handel zwischen der EU und Großbritannien. Die Zukunft wird zeigen, ob Boris Johnsons Brexit- und Corona -Strategien aufgehen werden, oder ob das Land gespalten und gebeutelt bleibt.

 

Anmerkung: Namen von der Redaktion geändert.

Beitragsbild: Lara Wiebecke