Totale Überwachung oder total okay? Chinas Sozialkreditsystem

Es gibt Themen über die intensiv diskutiert wird. Und es gibt Dinge, die ganz einfach feststehen – Tatsachen, die vermeintlich unstrittig sind. Eins plus eins ist beispielsweise ohne Frage zwei, die Sonne ist warm und die chinesische Regierung spioniert ihre eigenen Bürger aus. Diejenigen, die am 28.5. den beiden Referenten Theresa Krause, Doktorandin am Lehrstuhl „China Business and Economics“ der Uni Würzburg, und Stefan Geiger, Geschäftsführer des Chinaforums Bayern, in der Uni Passau zugehört haben, sind sich vermutlich zumindest bei letzterem nicht mehr ganz so sicher.

Fragt man Google, den zweifellos einflussreichsten Gatekeeper des 21.Jahrhunderts, nach dem chinesischen Sozialkreditsystem, so sind die ersten drei angebotenen Artikel folgende:

  • Tagesschau: China auf dem Weg zur totalen Überwachung
  • FAZ: Punktabzug für seltene Besuche bei den Eltern
  • Deutschlandfunk: China auf dem Weg in die IT-Diktatur

Die meisten der Gäste im voll gefüllten Hörsaal 2 des Philosophikums haben vor Veranstaltung wohl mindestens einen dieser oder ähnlicher Beiträge gelesen. Wie vorurteilsbelastet das Publikum allerdings wirklich ist, versuchte Theresa Krause zu Beginn der Veranstaltung mit einem kleinen Stimmungstest herauszufinden. Das Ergebnis war ähnlich überraschend wie die erneute Meisterschaft von Bayern München in der Fußball-Bundesliga. Fast alle hatten eine ähnlich negative Vorstellung vom Sozialkreditsystem:

„Da hat die chinesische Regierung halt für jeden Bürger so ein Punktekonto angelegt und wenn man was schlechtes macht verliert man Punkte. Deswegen sind da auch überall Überwachungskameras, die überprüfen, ob man sich auf ner öffentlichen Toilette hinsetzt oder im Stehen pisst.“

Dementsprechend erstaunt waren die Gesichter, als wenig später klar wurde, dass es kein plumpes China-Bashing geben würde. Stattdessen wollten die Referenten ein Plädoyer für das Sozialkreditsystem in China halten und dem Publikum einen ganz neuen Blickwinkel darauf ermöglichen.

Theresa Krause ist Doktorandin am Lehrstuhl „China Business and Economics“ der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg. Sie hielt zunächst einen kurzen Impulsvortrag, mit Hilfe dessen sie die größten Mythen bezüglich des chinesischen Sozialkreditsystems aus der Welt zu schaffen versuchte. Anschließend wurde die Diskussion schon für das Publikum geöffnet und der zweite Referent des Abends, Stefan Geiger, ging zusammen mit ihr auf die Fragen der Zuhörer ein. Stefan Geiger ist seit 2004 Geschäftsführer des Chinaforums Bayern. Er bereicherte die Diskussion vor allem durch seine persönlichen Eindrücke in eine den meisten sehr fremde Kultur, die er aufgrund seiner zahlreichen Besuche vor Ort sammeln konnte.

Fehlverhalten? Ab auf die rote Liste

Beide Referenten glauben der Aussage der chinesischen Regierung, das Sozialkreditsystem würde lediglich zur Sicherung von Rechtskonformität eingesetzt werden. Das heißt, dass lediglich solche Fehlverhalten Einfluss auf das System haben, die gegen die Regierung gerichtet sind, beziehungsweise gegen die öffentliche Ordnung verstoßen. Keinen Einfluss auf das Sozialkreditsystem hätten demnach die seltenen Besuche bei den Eltern, die die FAZ in ihrer Überschrift exemplarisch herausgestellt hat. Den Referenten zu Folge ist noch ein weiterer Teil dieser Headline nicht korrekt. Die Rede ist vom Punktabzug. In Deutschland verbindet man mit dem Sozialkreditsystem häufig ein Punktekonto, welches bei „guten“ Leistungen steigt, bei Fehlverhalten abnimmt. Theresa Krause allerdings stellt klar, dass die Idee eines Punktekontos bereits vor Jahren von der chinesischen Regierung verworfen wurde. Stattdessen besteht das Sozialkreditsystem fast ausschließlich aus sogenannten schwarzen und roten Listen. Für jedes mögliche Fehlverhalten existiert eine rote Liste und für jede Art positiven Betragens eine schwarze. Ob es gut ist, solche Listen zu führen, ist sicher nicht umsonst umstritten. Mit der europäischen Datenschutzgrundverordnung wären sie mit Sicherheit nicht vereinbar. Geiger warnte allerdings davor, die chinesische Regierung vorschnell zu verurteilen. Die Akzeptanz der chinesischen Bevölkerung für das System ist nämlich alles andere als gering.

Kontrolle der Mitmenschen wichtiger als eigene Privatsphäre

Will man das Sozialkreditsystem nüchtern und neutral betrachten, ist es demzufolge in erster Linie wichtig, sich klarzumachen, dass die chinesische Geschichte eine andere ist als die deutsche. In Erinnerung an die NS-Zeit, aber auch aufgrund der Erfahrungen mit der Stasi im Osten, ist es nicht weiter verwunderlich, dass wir hierzulande schnell hellhörig werden, wenn von einem System die Rede ist, das in die Privatsphäre der Bürger eindringt. Die chinesische Gesellschaft hingegen ist nach Geigers Ansicht noch stark von den Entwicklungen nach der Kulturrevolution geprägt. Nach Mao Zedongs Tod bekamen viele Chinesen zum ersten Mal in ihrem Leben eine wirkliche Chance, Geld zu verdienen. Dies hatte zur Folge, dass etliche Fake-Produkte auf den Markt gelangten und keiner mehr wusste, wem man eigentlich vertrauen kann und wem nicht. Beide Referenten konnten bestätigen, dass dieses Misstrauen gegenüber den Mitmenschen bis heute besteht. Für viele Chinesen ist deshalb die Kontrolle der anderen Bürger wichtiger als die eigene Privatsphäre.

An den bis zum Ende hin kritischen Fragen aus dem Publikum, wurde schnell ersichtlich, dass 90 Minuten nicht gereicht haben, um die Köpfe der Zuhörer vom einen Extrem zum anderen umzupolen. Stattdessen wurde ein Beitrag zu einem kontroverseren Diskurs bezüglich des Sozialkredits geleistet. Vielleicht kann man auch die generelle Lehre aus diesem Vortrag ziehen, auf Schubladendenken zu verzichten, und auch immer die Gegenseite zu Wort kommen zu lassen. Dass eins plus eins zwei ergibt, ist jedoch relativ unumstritten.