Ein Glas Realität | Blank Poesie

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Lena Langecker Ressortleiterin Gesellschaft

Der Regen prasselt unaufhaltsam gegen die Fensterscheibe. Eine durchdringende, nie enden wollende Erinnerung an die Realität. Dabei ist es gerade das, was sie will. Der nüchternen, kalten Realität entfliehen. Sie seufzt und setzt das Glas an ihre Lippen. Mit einem gierigen Zug leert sie es. Der Alkohol fließt ihre Kehle hinab und sofort setzt ein kribbelndes Gefühl ein, das sich in ihrem ganzen Körper ausbreitet. Die Wärme steigt ihr in den Kopf und sie streicht sich ein paar Haarsträhnen aus der Stirn. Morgen wird anders. Ab morgen wird alles anders. Wütend ballt sie ihre Hände zur Faust. Sie krallt die Fingernägel in ihre Handflächen bis sich sichelförmige Abdrücke bilden. Sie weiß, dass sie sich nur selbst belügt. Alles ist nur eine weitere Ausrede, um aufzuschieben, was kommen wird. Das Unaufhaltsame. Sie hat keine Angst. Sie ist nur verzweifelt. Entmutigt. Gedemütigt. Enttäuscht.

Der Wind peitscht die Regentropfen kräftig gegen die Scheiben der Kneipe. Sie seufzt wieder, dreht ihren Kopf und wirft dem Barkeeper einen vielsagenden Blick zu. „Noch einen“, meint sie und deutet auf ihr leeres Glas. „Bitte“, setzt sie hinzu und zwingt sich zu einem kleinen Lächeln. Doch ihre Mundwinkel zucken lediglich für den Bruchteil einer Sekunde. Nur gespielt, alles nur aufgesetzt. Sie dreht der Bar wieder den Rücken zu und starrt gedankenversunken in den Martini vor sich auf dem Tisch. Behutsam schwenkt sie das Glas in kreisenden Bewegungen hin und her. Ein einzelner Tropfen löst sich vom Rand und rinnt auf einem beschwerlichen Weg Richtung Glasboden. Ein genervtes Räuspern. Sie lässt das Glas los und widmet sich dem neuen Martini.

Der stürmende Regen hat noch immer kein Ende gefunden. Wieder entweicht ihren Lippen ein resignierter Seufzer. Sie will nicht mehr. Alles ist zu viel. Der Alltag. Der immer wiederkehrende, eintönige Alltag. Gelangweilt vom Leben. Gezeichnet durch harte Arbeit und dem ewig währenden Streben nach Anerkennung. Ihr Leben ist wie ein Tropfen gegen die Fensterscheibe. Ein harter, kurzer Aufprall, dann nichts als ein schleichendes, langsames, qualvolles Hinabgleiten bis zum Rand des Fensters. Ein verzweifeltes Festklammern am Abgrund des Fensterrands, ein letztes Hinauszögern des Unvermeidlichen. Schließlich ein aufgebendes, eingestehendes Abtropfen.

Sie stürzt den Alkohol hinunter und nimmt das betäubende Gefühl willkommen entgegen. Der Aufprall des Regens gegen die Fensterscheibe klingt in ihren Ohren auf einmal wie ein Aufschrei, ein Hilfeschrei. Von niemandem gehört. Von allen ausgeblendet, ignoriert, übergangen. Auch ihr Hilfeschrei ist erstickt. Erstickt in dem ganzen schnelllebigen Alltag. Unbemerkt von Menschen, die sich nur für ihre eigenen Probleme interessieren. Sie presst die Hände auf ihre Augen. Versucht sie in ihren Höhlen weiter hinein zu drücken. Sie will nichts mehr sehen. Nichts mehr sehen von dieser Welt. Diese Welt, in der jeder nur für sich lebt. Alle hetzen aneinander vorbei ohne aufeinander zu achten. Ein weiterer tiefer Schluck aus ihrem Glas. Sie richten ihre Welt selbst zugrunde. Noch einmal das Glas an die weichen, vollen Lippen heben. Die letzten Tropfen gierig aufsaugen.

Etwas zu heftig stellt sie das Glas zurück auf den Tisch. Ein paar Leute drehen sich nach ihr um. Vorher hatte sie keiner bemerkt. Doch jetzt stört sie. Sie greift nach dem Autoschlüssel neben sich auf dem Tisch. Ihre Finger umklammern das kleine Stück Plastik als sie aufsteht. Ihre Knöchel treten weiß hervor. Die Kanten des Plastik schneiden in ihre Haut. Sie klammert sich daran fest, während sie entschlossen auf den Ausgang zugeht. Ohne sich noch einmal umzudrehen drückt sie die schwere Tür zur Realität auf. Der Regen prasselt auf sie, als wolle er sie mit sich zu Boden drücken. Hinter ihr fällt die Metalltür ins Schloss. Der dumpfe Lärm der Kneipe verstummt. Sie ist allein. Sofort umhüllt sie Dunkelheit.