Backpacking in Marokko

Beitragsbild: Copyright – Fes ..Morocco 1987 – By Nick Kenrick (CC BY 2.0)

Marokko blüht. Und verwickelt unweigerlich in Widersprüche. Auf jedem Meter, mit jedem Schritt. Hinter jeder Tür des Landes schlummert ein Schatz. Unsere dreiwöchige Reise durch das Land ist eine verheißungsvolle Begegnung, ein erster inniger Tanz mit einem ganzen Kontinent: Afrika.

Immer wieder wettre ich gegen ein Übermaß an Gemütlichkeit. Bloß nicht der Versuchung verfallen. Stattdessen ganz genau hinhören, auf die stummen Worte des Herzens. Damit es kraftvoll pocht und nicht vor sich hin siecht. Deshalb sollte gelten: Raus aus den persönlichkeitstötenden Vorlesungssälen, hinein in die Welt.

Gerade jetzt. Um dem jämmerlichen Gebrüll jener Schreihälse zu trotzen, die sämtliches Unheil der Welt jenseits europäischer Grenzen vermuten. Ein Besuch in Marokko würde ihnen gut bekommen. Als Toleranztraining, als Beweis des Selbstverständlichen: Auch Kopftuchtragende Menschen lachen und weinen. Sie kümmern sich um die Bedürftigen, schenken einem Wildfremden einen Moment der Wärme und sorgen füreinander, anstatt den Anderen mit feindseligen Blicken der Habgier zu durchbohren. Und wie in jedem anderen Land der Welt gilt: Ausnahmen bestätigen die Regel. Auch hier gibt es Spinner und Gauner.

Wir sind zu Gast bei Amin, der für zwei Nächte sein kleines Zimmer in Marrakesch mit uns teilt. Ein Glückstreffer, denn der einunddreißigjährige Fremdenführer ist unsere Eintrittskarte in eine andere Welt: Das Lehmhaus seiner Mutter steht in einem prekären Vorort, nicht unweit vom vibranten Zentrum der Metropole. Vom modernen Zeitgeist der Stadt ist hier jedoch nichts zu spüren.

Amin bewirtet uns fürstlich, führt uns herum, beantwortet all unsere Fragen. Wir sind hingerissen von seiner Gastfreundschaft. Doch der erste Eindruck trügt: Mit der Zeit entpuppt er sich als Halunke, will uns zu Wucherpreisen in die Wüste schicken. Um seinen überteuerten „Freundschaftsangeboten“ zu entweichen, lenken wir den Inhalt unseres Gesprächs auf sein zweites Lieblingsthema, den Islam. Sobald er darauf anspringt, beginnt die Show: Mit ehrfürchtigem Blick schmettert er in kehligem Arabisch eine Sure nach der anderen durch das Zimmer und versucht uns seinen religiösen Brocken schmackhaft zu machen.

Soweit, so gut. Doch Amin läuft allmählich zur Höchstform auf, redet sich in Rage. Es ist 01.13 Uhr. Immer noch sitzen wir an dem kleinen Plastiktisch in seinem Zimmer, vor uns eine Kanne dampfender Tee, als er johlend vor Freude die in seinen Augen ruhmreichen Schandtaten Hitlers besingt. Denn die Juden, so gibt er plötzlich unverfroren zu, sind sein Lieblingsfeind. Bei ihnen endet sein angeblich so tolerantes Weltbild. Was ein Stümper!

Am nächsten Morgen machen wir uns auf und davon, durch die Pforten des rassistischen Irrsinns direkt in den farbenfrohen Garten Eden von Marrakesch. Himmel und Hölle liegen hier nicht weit voneinander entfernt, im Gegenteil. Auf den Straßen Marrakeschs scheint das Eine nicht ohne das Andere zu existieren. Beim Gang durch die Medina, die wundervolle Altstadt, streift mein Blick über das stolze, aber angeschlagene Antlitz eines Landes hartnäckiger Gegensätze: Kunstvoll verzierte Hauseingänge, in deren Schatten die Armut um’s Überleben kämpft. Zwischen den unzähligen, verbeulten Taxis zwängen sich vollbepackte Esel, die die Last der Entrechteten auf ihren Schultern tragen. Und hinter sattgrünen Palmen türmt sich der Abfall einer ganzen Stadt.

Abertausende schieben sich durch die Hitze, drängeln, zanken und brüllen. Sie bahnen sich ihren Weg durch Zigarettenverkäufer, Bettler, Schlangenmenschen, Akrobaten und das wilde Geschnatter dressierter Affen. Der wohlige Geruch von Gewürzen und Tee liegt in der Luft. „Durcheinander ist ein Wort für eine Ordnung, die wir nicht verstanden haben“ notierte Henry Miller einmal. Auch er tauchte gerne ein, ins Chaotische und Wildfremde. Das herrliche Durcheinander in Marokko wäre mit Sicherheit nach seinem Geschmack.

Doch so chaotisch das Leben auf den Straßen auch anmutet, Marokko ist ein Hort der Gemächlichkeit. Das fällt auf, sticht sofort ins Auge. Überall verweilen sie – auf Mauern, in alten Karren oder im Schatten blühender Orangenbäume; am liebsten jedoch in den unzähligen Teesalons, die Marokkos Straßen säumen.Oft laden sie dazu ein, schenken uns ihre Zeit. Und ihre Besonnenheit verführt, sie steckt an.

So auch Ibrahim. Der Vierundzwanzigjährige spricht uns auf der Straße an, erhofft sich eine Bereicherung seines deutschen Sprachschatzes. Und berichtet: Von Karawanen in die sagenumworbene Wüstenstadt Timbuktu, von seiner Jugend als Nomadenkind und der lebensfeindlichen Dürre der Sahara. Immer wieder greift er dabei zu der silber-glänzenden Teekanne und schenkt den landestypischen „Berber Whiskey“ nach; eine Anspielung auf die von vielen praktizierte Alkoholabstinenz.

Wie so viele hier gehört er zur Ethnie der Berber. Die Imazighen, die „Freien“, wie sie sich selbst nennen, bevölkern große Teile Marokkos. Rund 70 Prozent aller Marokkaner sind berberstämmig. Das überrascht, könnte man sich doch trotz der geographischen Zugehörigkeit zum afrikanischen Kontinent eher im Orient wähnen. Die überwältigende Mehrheit hier spricht Darija, den marokkanischem Dialekt des Arabischen. Doch das Land ist ein riesiger Schmelztiegel, eine dicke Suppe aus Sprachen und Kulturen. Fast jeder Zweite beherrscht eine der vielen Berbersprachen. Eine von ihnen, Tamazight, ist zweite Amtssprache. Viele verfügen außerdem über mehr oder weniger ausgereifte Kenntnisse des Französischen und Spanischen. Ein Vermächtnis der kolonialen Besetzer, aus deren Klauen sich das Land erst 1956 endgültig befreien konnte. Inzwischen führen sie sich selber als Besetzer auf, wollen die Region der West Sahara trotz breiter internationaler Anerkennung immer noch nicht preis geben. Mord und Totschlag, Unterdrückung und Einschüchterung dienen als Mittel der Wahl.
Die Nacht legt sich langsam über die Stadt und wir machen es uns auf einer jener typisch marokkanischen Dachterrassen gemütlich. Während die Sonne langsam den Horizont streift, erstrahlt der Himmel in betörender Rotverfärbung. Im Osten schmettert ein Imam das erste „Allahu Akbar“ des Abends. Über unseren Köpfen das Fauchen unzähliger Stromkabel, in der Ferne der Lärm der Stadt. Tabakrauch steigt auf, zieht seine Kreise und verschmelzt mit der frischen Luft der marokkanischen Nacht. Über den Dächern Marrakeschs kommt man den unzähligen Wundern des Orients ganz nah, kann sie zwischen den Händen spüren. Schnell noch entweihen wir die Terrasse unseres Hostels und begießen die Schönheit des Lebens mit einer Flasche Rotwein, heimlich. Glückstrunken taumeln wir ins Bett.

Auf dem Weg an die Atlantikküste halten für einen kurzen Zwischenstopp in einem Dorf. Eine stämmige Frau verkauft Bananen und Datteln an die Reisenden, hinter ihr stapelt ein Mann mittleren Alters ein paar Dutzend Msemen – so nennen sie das crêpartige Gebäck, dass hier so oft mit Käse und Honig gereicht wird. Während er an seiner Zigarette zieht, schenkt er uns ein flüchtiges Lächeln. Als der klapprige Bus schließlich hupend weiterfährt, hechtet eine ganze Horde rauchender Marokkaner neben der Tür entlang. Ein herrlicher Anblick! Nichts bringt sie aus der Ruhe, bis zum letzten Zug genießen sie.

In Essaouira, etwa 175 Kilometer von Marrakesch entfernt, vermuten die Geschichtenschreiber den letzten Außenposten der antiken Welt. Seit Jimi Hendrix im Juli 1969 hier ein Bett belegte, hat die einst heruntergekommene Hafenstadt sich zu einem regelrechten Nest der Kreativität entwickelt: Maler und Handwerker, Yoga-Junkies und Aussteiger – sie alle haben hier ein Zuhause gefunden. Wir schlendern durch den Hafen und lauschen dem Kreischen der Möwen, als Saíd auf uns aufmerksam wird. Der charmante Abzocker arbeitet als Wachmann in einer der vielen Werften. Mit Kennerblick und einstudiertem Geleier lädt er uns ein, „for free“ natürlich. Er führt uns herum, schwingt voller Stolz ein eingeschifftes Stück Eukalyptusholz durch die Luft und klettert mit uns in den Rumpf eines gerade in der Werft stehenden Sardinenschiffes. Neben den Touristen bringen die das meiste Geld, erklärt er. Und hält dann fordernd die Hand auf.

„Ausdauer durchbohrt Marmor“ sagen die Marokkaner. Und der Gang durch ihre Gassen gibt ihnen Recht. Unzählige Seelenverkäufer und Heilbringer beplätschern einen mit ihrem Geschwätz; drängen zum eintreten, verweilen und kaufen. Was auch immer man gerade (nicht) braucht, ist hier in Hülle und Fülle vorhanden. Selbstverständlich „cheap cheap“, nur noch Heute! Und blindlings laufen einige in ihre Fallen, lassen sich bezirzen – kaufen klebrige Feigen anstatt dem versprochenen Haschisch. Herrliches, schäbiges Land.

Es ist kaum verwunderlich, dass der bunte Trubel jedem auf Ordnung getrimmten Europäer irgendwann einmal zu viel wird. Unbewusst streift man sich dann die Scheuklappen über, blickt nicht mehr nach rechts uns links und verfängt sich im sturen Geradeausstratzen. Als Schutz. Das kommt vor, das passiert. Doch beim Versuch sich zu schützen wird man blind für all das Sagenhafte. So auch wir, als an der Strandpromenade von Essaouira Brahim auf uns zugelaufen kommt. Mit bestimmter Miene schwenken wir verneinend den Kopf. Was sind wir doch für Narren! Der junge Gelehrte will uns nichts andrehen, bloß Englisch üben und etwas über unsere Heimat erfahren. Er durstet nach Weltwissen. Wie eine frische Brise kommt er daher, bietet uns nichts an, außer seine Worte und einem freundlichen Lächeln. Ergriffen hören wir hin, beeindruckt von seinem Eifer und seinem sprachlichen Elan. Erst nach zwei Stunden macht er sich davon.

Um der Sehnsucht des Herzens näher zu kommen, müssen wir noch einmal nach Marrakesch zurück. Dort besteigen wir früh Morgens einen Bus, der uns in dreizehn Stunden dem Himmel näherbringt: Die Sahara, seit jeher ein Sehnsuchtsort. Weil wir ihr Ausmaß nicht begreifen, weil wir es gar nicht begreifen können. Die Sahara entzieht sich menschlichen Maßen. Ihre Weite lädt ein – zum stummen Bestaunen dieses Weltwunders. Und ihr Raum schafft Platz – für klare Gedanken. Mehr ist nicht von Nöten. Das ist ihr Geheimnis, das macht sie so verlockend.

Ausgelaugt und bettreif betreten wir gegen 21.30 den Innenhof eines großen Lehmgebäudes und sind im Herzen Marokkos angekommen. Couchsurfing in der Sahara: Mit Niemandem haben wir auch nur fünf Wörter einer Sprache gemeinsam, trotzdem nehmen sie uns hier auf, als gehörten wir zur Familie. Kurze Zeit später wird aufgetischt: Selbstgemachter Dattelsirup, herrlich gewürzte Oliven, frisch gebackenes Brot und dampfender Tee. Danach eine üppige Tajine – Marokkos Nationalgericht: In einem gewölbtem Keramikgefäß werden Gemüse und Fleisch mittels eines Dampfkreislaufes gegart. Alle langen zu, alle bedienen sich. Als nur noch das Fleisch übrig ist, teilt Ahli, der Älteste, jedem Familienmitglied seinen Anteil zu. So ist es hier üblich, keiner soll benachteiligt werden.

Am nächsten Abend verlassen wir das Wüstendorf Hassi Labied in Richtung Erg Chebbi, eine der zwei „Ergs“ in Marokko. So bezeichnet man die großen Sandmeere der Sahara, die unser inneres Bild einer unendlichen Wüste aus funkelnden Dünen befeuern. Moha und Hassan, zwei Brüder, begleiten uns. Ihr genaues Alter wissen sie nicht, sie wurden als Nomaden geboren. Irgendwann beschloss ihr Vater, sein Glück in der Sesshaftigkeit zu suchen. Seitdem lebt die ganze Familie in einem Lehmhaus am Rande der Sandberge.

Antoine de Saint-Exupéry schrieb einst, dass die Sahara lebendiger als eine Hauptstadt sei – wie Recht er hat. Zur Stunde des Sonnenuntergangs streifen wir barfuß über die Dünen, den warmen Sand zwischen den Zehen. Wie ein Mantel legt sich die Kälte langsam über die weite Wüstenlandschaft, beraubt sie ihrer feindlichen Hitze und versorgt den aufmerksamen Beobachter mit einer nie gesehenen Farbenpracht. Sämtliche Spuren von Leben verlieren sich schließlich in aller Stille im Halbdunkel, während der satte Schein des Vollmondes die endlosen Dünen in ein helles Licht taucht. Wieder einmal könnte ich zerlaufen vor Glück.
Zwei Tage später trampen wir nach Rissani. Die Stadt nährt sich noch immer vom Ruhm des einst so bedeutungsvollen Handelszentrums Sijilmassa, dessen Ruinen außerhalb der Stadt im Staub liegen. Jahrhundertelang startete hier eine der wichtigsten Handelsrouten durch die Sahara, über die vor allem Gold, Elfenbein und Sklaven hergebracht wurden. Mit den Karawanen kam auch der Wohlstand. Doch die großen Zeiten sind vorbei, viele zieht es inzwischen davon.

Dicker, beißender Staub segelt durch den kleinen Raum in Rissanis Markthalle, an dessen Eingang wir auf Trommeln, Boxen und Decken sitzen. Während Mustafa gemächlich den frischen Tee einschenkt, glotzen mich aus dem Laden gegenüber die weit aufgerissenen Augen dutzender, säuberlich abgetrennter Ziegenköpfe an. Fast so als hätten sie geahnt, dass sie in diesem Gewusel aus Gewürzen, Schmuck und senegalesischen Kleidern an den Mann gebracht werden sollen. Zieht man die Haut ab und kocht das Ganze, so wird aus dem blutigen Kopf ein saftiger Leckerbissen; so erzählt man mir später zumindest. Währenddessen sinniert Mustafa über die schwierigen Lebensverhältnisse in seinem Land. Mit seinem langen, weißen Gewand und dem spitzen Bart, den wilden Locken und den großen, ehrlichen Augen erzählt er uns von dem muslimischen Gebot, den Armen und Entrechteten zu geben. Man nehme sich ihrer an, ein jeder trage einen kleinen Teil dazu bei, so berichtet er. Nur so überleben sie hier, die Politik kümmere sich um nichts. Für den König hingegen findet er ausschließlich warme Worte. Er sei ein guter Mann; einer, der anpackt.

Mohammed VI – sein Antlitz ziert das Land. Als 18. Monarch aus der Dynastie der Alawiden – die seit 1664 herrschende Königsdynastie – regiert er seit 1999 das Land. Seit einer Verfassungsänderung 2011 muss er bei manchen seiner politischen Einfälle das Parlament um Erlaubnis bitten. Auch „heilig“ ist er nicht mehr, der Arme. Sein Wohlbefinden kostet die Marokkaner ein Vermögen. Und trotzdem beten sie ihn an, erst recht in Rissani: Moulay Ali Cherif, einer seiner Vorfahren, begründete einst die bis heute andauernde Königsdynastie. Sein Mausoleum liegt nur einen Steinwurf entfernt.

Kurz bevor wir uns wieder auf den Weg machen, zieht Mustafa noch eine bestechende Weisheit, ein wunderbares Resümee über den entschleunigten Lebensgang der Marokkaner aus der Tasche: In Marokko, so sagt er bedächtig, haben sie vieles nicht – Geld, Wasser, Nahrung. Doch die haben etwas von unschätzbarem Wert. Etwas, dass uns Europäern langsam abhanden kommt – Zeit. Furios!
Mit diesen Worten im Gepäck verschlägt es uns 600 Kilometer weiter in den Norden, nach Chefchaouen. Eine halbe Ewigkeit galt die blaue Stadt als heilig, Ausländern war der Zutritt verboten. Heute quillt die Altstadt fast über, so viele lümmeln in ihren Gassen. Wir haben kaum einen Fuß durch das Stadttor gesetzt, da will der dicke Omar uns unverzüglich den Urlaub versüßen, warnt uns vor dem zweitklassigem Hasch seiner Konkurrenz und würde uns am liebsten direkt mit Kilos beladen. Er drängt, besudelt, umgarnt. Und zieht dann beleidigt ab.

Der Anbau von Haschisch ist in Marokko zwar nicht legalisiert, wird auf Grund seiner tiefen Verwurzelung in der hiesigen Kultur aber durchaus geduldet. Es ist kinderleicht, sich etwas zum Rauchen zu besorgen, überall wird es angeboten: Beim täglichen Stelldichein im vorübergehenden Stammrestaurant, beim abendlichen bestaunen des Sonnenuntergangs, oder beim schnellen Wasserkauf im Kiosk um die Ecke. Doch einige nutzen die juristische Grauzone aus, bereichern sich in einem Schulterschluss mit der Polizei an den gutgläubigen Rauschhungrigen. Der Weg zu einem geregelten Einkommen sieht dann so aus: Erst dem blinden Touristen einen möglichst großen Brocken des dunklen Glücks verkaufen. Dann – sobald er um die Ecke gebogen ist – der Polizei eine detaillierte Beschreibung seiner Visage zukommen lassen und, wenn möglich, den Weg weisen. Wenn der Verängstigte dann reumütig wimmert und bettelt, unterbreiten die freundlichen Staatsdiener ihm ein unschlagbares Angebot: Gegen einen saftiges Taschengeld retten sie ihn vor einem verlängerten Urlaub auf Staatskosten. Dankbar küsst der Erwischte dem Polizisten die Hand, der Verräter erhält ein üppiges Stück vom Kuchen, und das Spiel beginnt von vorn. So erzählen es zumindest die Einen. Die Anderen wiederum behaupten, dass die Polizei nicht einen Finger an haschrauchende Europäer legen darf, um auch weiterhin jedes Jahr eine Horde prall gefüllter Geldbörsen als Gast im eigenen Land zu begrüßen.

Die Umgebung Chefchaouens ist auch wegen den vielen Wanderwege im Rif-Gebirge so beliebt. In der Mittagssonne schleppen wir uns einen der vielen Berge hoch, als wir auf Abdul und Mohammed treffen. Im Schatten einer Eiche schlagen sie ihre Zeit tot. Nach einem kurzen Plausch laden sie zu einer Runde des würzigen Haschs, um den Strapazen der Hitze zu entfliehen. Die beiden passen auf ihre dreiundvierzig Ziegen auf. Jeden Tag kommen sie her, behalten die Herde im Blick. Abdul ist stolzer Vater dreier Söhne und einer Tochter, die inzwischen alle die Schule besuchen. Er hingegen war nie dort; von klein auf begleitete er jeden Tag seinen Vater, der sich ebenfalls als Hirte durchschlug. Doch die Schulbildung, so ist er felsenfest überzeugt, wird ihnen den Weg in eine selbstbestimmte Zukunft ebnen. Elegant unterhält er sich mit den Vorbeiziehenden, spricht vorzüglich Spanisch, Französisch, Italienisch und Englisch. In seinem ruhigen Blick liegt tiefe Zufriedenheit. Hier rauchen sie schon immer, so sagt er, und das werde respektiert. Im Gegenzug verhalten auch sie sich respektvoll, ziehen sich zurück zum rauchen, belästigen niemanden. Ein überaus vernünftiger Pakt.
Am nächsten Morgen schlendern wir zum Busbahnhof. Die Küstenstadt Asilah wird die letzte Station unserer Reise sein. Im Großraumtaxi stoßen wir auf Abdullah, der uns sogleich als seine heutige Beute ausgemacht hat. Was folgt: Er spinnt gemächlich ein klebriges Netz um uns, wickelt uns ein und wartet dann in aller Glücksseligkeit auf den fetten Happen. Glück für uns: Wir erkennen das drohende Unheil, spielen ein bisschen mit, und entkommen später seinen knochigen Klauen dank einer Finte.

Doch erst jagt er uns noch durch die gentrifizierte – und deshalb ausgestorbene – Medina der Kleinstadt und verfrachtet uns in das Haus seiner Mutter. Deren Untermieter, eine wundervolle Familie, nimmt sich unserer an. Und tischt umgehend köstlichen Couscous auf, das traditionelle Freitagsgericht in Marokko. Nach dem Essen entführt Abdullah uns wieder, kümmert sich seinerseits um unser leibliches Wohl: Zuckersüßer Tee und saftige Joints. Frisch aus den Bergen, wie er uns versichert. Seine eingefallenen Wangen und die stumpfen, verfaulten Zähne zeugen von einer langen Karriere als unerschöpflicher Raucher. Einen nach dem Anderen steckt er sich an, während er uns beschwatzt. Seine stumpfen, faulen Zähne könnten ohne Weiteres die Vorderseite einer Marlboro Packung zieren.
Die Dämmerung bricht bereits an, als wir in einem kleinen Café sitzen und Abdullah, hochbeglückt und himmlisch berauscht, seine verknoteten Weltansichten zum Besten gibt: Mit überschlagenen Beinen versinkt er in seinem Klappstuhl, nippt an seinem dritten Milchkaffee und ascht sorgsam ab, bevor er mit zusammengekniffenen Augen und feurigem Glucksen die Worte Allahs hinausposaunt. Und dann, sichtlich bespaßt, gesteht: „Sorry, I am a little bit high“.

Von einem Letzten will ich noch berichten, seine Geschichte ist es wert, gelesen zu werden. Nicht da außergewöhnlich spektakulär, nein. Doch erst Karims Leben rückt die Dimensionen ins rechte Licht. Seitdem er fünfzehn ist, befördern er und sein Hengst Fortunado die Menschen mit einem klapprigen Karren von A nach B. Jeden Tag, von Sonnenaufgang bis zur Dämmerung. Damit verdient er sein Brot.

„Vivir aquí no cuesta nada, pero lo que cuesta mucho es sobrevivir“ – ein Leben hier kostet nichts, das Überleben jedoch kostet eine ganze Menge.

Der blitzgescheite und zuvorkommende Anfang-dreißiger verdient meist zwischen fünf und zehn Euro pro Tag, guter Durchschnitt hier. Doch allein die Schulgebühren seiner beiden Kinder betragen jeweils dreißig Euro pro Monat.
Vor einer Kurve macht er halt, bittet uns die nächsten fünfhundert Meter zu Fuß über’s Feld zu gehen – die Polizei winkt sich ihre Beute aus dem Verkehr. Wenn sie uns Reisende auf seinem Karren erblicken, muss er ihnen ein paar Scheine zuschieben. Sie wollen einen Teil vom Kuchen, wehren kann er sich nicht. Dabei sei heute ihr freier Tag; Trotzdem streifen sie sich die Uniform über, kommen um zu schröpfen. Also steigen wir erst hinter der nächsten Kurve wieder zu. Und die Beamten grüßen uns freundlich, während sie auf der Lauer liegen.

Zwei Tage später sitzen wir wehmütig in einem klapprigen alten Bus. Die etwa einstündige Busfahrt zum Flughafen Fes-Saiss kostet umgerechnet ca. 40 Cent. Mitten auf der Strecke bleiben wir abrupt stehen. Zwei Kontrolleure steigen zu, machen sich an ihre Arbeit. Und plötzlich ist der Teufel los, der ganze Bus ist in Aufruhr: Eine Frau mittleren Alters ist offenbar ohne Fahrschein unterwegs. Erbost schwingt sie den erhobenen Zeigefinger, will ihre Ruhe. Und spuckt dem Kontrolleur lange Tiraden auf Arabisch entgegen. Jetzt kommen alle hinzu, alle diskutieren, geben ihren Senf dazu, schütteln den Kopf und geigen der Frau, oder wahlweise dem Kontrolleur lautstark ihre Meinung. Was ein Spektakel! Wie so oft in diesem Land durchströmt mich das pure Glück. Weil alles echt ist, und nichts anders sein soll.

Hier braust und summt, jammert und wimmert das Leben. Es schäumt und sprudelt vor Glück, wie eine der unzähligen Tassen Tee, die sie hier so elegant aus der Höhe einschenken. Wer mit Zeit herkommt, trifft hinter jeder Ecke auf etwas Unerwartetes, ja Fabelhaftes. Und es sind die Begegnungen mit eben jenen, die sprudeln, schäumen oder wimmern, die dieses Land zu etwas Sagenhaftem machen. Egal ob mittellos oder gut betucht, fanatisch oder ketzerisch, redselig oder verschwiegen – sie alle glänzen. In ihrem Licht leuchtet das Land.