Nicht Ganz Sauber – (7) – Die Umfrage

Der Löwe und ich begegneten uns das erste Mal auf dem Ludwigsplatz. Eigentlich treffen wir uns ausschließlich dort. Wahrscheinlich bin ich verrückt, doch mir gefällt der Gedanke, eine Statue zum Freund zu haben. Er wurde mein Ansprechpartner in allen Lebenslagen, mein Psychologe und Kritiker. Ich nannte ihn Hubert.

„Mach es weg!“, der Löwe schüttelte sich angeekelt und versuchte Pfoten, Schwanz und Mähne vom frischen Schnee zu befreien. Der Januar hatte die ersten Flocken gebracht. Deshalb schlitterte ich ein wenig auf der vereisten Straße, als ich versuchte, ihm so schnell wie möglich zu Hilfe zu eilen. Nachdem alles, bis hin zu Huberts steinerne Schwanzspitze, gründlich gesäubert war, atmete er erleichtert auf und ich sank erschöpft zu Boden. „Frohes Neues“, brummte der Löwe dankbar, aber ich schüttelte nur den Kopf. Eine kurze Pause und mehrere Zigaretten später, schöpfte ich wieder Atem. „Wie geht’s dir“, fragte ich. „Viel los in letzter Zeit, Silvester und das alles“, antwortete der Löwe. „Hast du irgendwelche guten Vorsätze? Ich finde es immer gut, im neuen Jahr ein wenig an sich selbst zu arbeiten. Die beste Version von sich selbst zu werden, das ist doch das Ziel.“ „Nein“, antwortete ich, „einfach nein.“

Januar. Der Winterblues pocht mit aggressiver Beharrlichkeit an die Tür und belästigt die dümmlich grinsende Resteuphorie mit überflüssigen Fragen. Wer bist du? Wo willst du hin? Was ist der Sinn deines Studiums? Eine gänzlich fiktive Umfrage unter Passauer Studenten zu diesem Thema ergab Folgendes: Das oberste Ziel, die Erfüllung aller Wünsche und Träume einer jungen Generation gebildeter Menschen, ist der Erhalt des eigenen gehobenen Lebensstandards. Die Studienzeit wird als notwendige Phase zwischen Abi und Arbeitswelt beschrieben, die vor allem anderen sicherstellen soll, dass auch in Zukunft ein Porsche Cayenne die Garagen outgeburnter Jungspießer vollstinkt. Jenes trostlose Zwischenstadium der Adolsezenz gilt als unvermeidlbares Übel, das es schnellstmöglich abzuschließen gilt.

78% gaben an, lediglich der Gedanke an die Firmenübernahme von Papa, die dritte Scheidung und das wahnsinnig geschmacklose Toskanahaus im Münchner Vorort hülfen den Gutverdiener-Azubis dabei durch lange Nächte in der Bibliothek. Ausbildung, nicht Bildung laute die Devise. Weil das heute eben dazugehört, strömen auch die an die Uni, die da eigentlich gar nicht hinwollen. Die Fachrichtung spielt keine Rolle. Das Wichtigste ist präsent zu sein. Denn auf dem Unilaufsteg wird gezeigt, was man hat. Einen guten Namen.

„Eines Tages“, so träumen 84%, „ werde ich all das unnütze Wissen getrost vergessen können. Denn dann habe ich meinen Abschluss und kann ausbrechen aus diesem Stall stinkender, alter Bücher. Ich werde meine Flügel ausbreiten und in die Welt hinausziehen und ich werde nie wieder denken.“ Welch wunderbare Aussicht sich freizumachen von dem bisher Gelernten und wieder ganz zu seinem 18-jährigen Ich zurückkehren zu können, bevor anstrengendes Lernen begann, das Gehirn zu vergiften.

„Bitte nerv die Leute nicht mit deiner ewigen guten Laune, die ist auf Dauer echt anstrengend“, stöhnte Hubert und verdrehte die Augen. „Was treibst du heute Abend? Liest ein gutes Buch, nehm ich an?“ „Ach ich pfeif mir noch schnell alle Folien des vergangenen Semesters rein“, antwortete ich, „rein ins Kurzzeitgedächtnis und dann ab in die Klausur.“ „Verstehe“, lachte Hubert, wobei das mehr nach einem Brüllen klang. „Brauchst du Hilfe?“ „Nein danke“, murmelte ich und spürte, wie mit einem Mal eine Welle der Müdigkeit mein Gehirn wie eine warme Decke umschloss und alle Gedanke davonspülte. „Du glaubst doch wohl nicht, dass ich damit heute noch anfange.“

Mahlzeit.