Nicht Ganz Sauber – (8) – Ein königlicher Sommer

Der Löwe und ich begegneten uns das erste Mal auf dem Ludwigsplatz. Eigentlich treffen wir uns ausschließlich dort. Wahrscheinlich bin ich verrückt, doch mir gefällt der Gedanke, eine Statue zum Freund zu haben. Er wurde mein Ansprechpartner in allen Lebenslagen, mein Psychologe und Kritiker. Ich nannte ihn Hubert.

Ich stehe an der Ampel, die Schultern hängen, der Kopf gesenkt. Seit mehreren Stunden warte ich, Warten auf das erlösende Grün. Sanft wiege ich mich im heißen Saharawind. Plötzlich durchfährt es mich wie ein Blitz. Da ist etwas. Der Schleier aus Schweiß vor meinen Augen beginnt sich zu lichten. Ich trotte los. Unter lautem Hupen quere ich die Straße, lege eine Hand auf die Flanke des Löwen und breche zusammen.

Ich erwachte in völliger Dunkelheit. Kühle Nachtluft umwehte meine Nase. Der kalte Schweiß auf meiner Haut ließ mich frösteln. „Hubert“, krächzte ich. „Ja“, antwortete der Löwe. „Ich bin so froh dich zu sehen. Ich wusste nicht, ob ich es schaffe“, rief ich. Meine Stimme war wohl doch nicht so belegt, wie ich dachte. Ich zwang den Löwen in eine unangenehm lange Umarmung und drückte ihm meine ausgetrockneten Lippen auf die Flanke. Hubert stutzte.

„Was ist eigentlich falsch bei dir? Da lässt du dich monatelang nicht blicken und jetzt soll ich deinen dramatischen Auftritt beklatschen? Reiß dich zusammen, setz dich ordentlich hin und erzähl mir was von Passau.“ Ich gehorchte.

Ein weiterer Sommer war über Passau gekommen und versetzte die Stadtbevölkerung stimmungsmäßig zurück ins Jahr 1522. Der spätpubertierende Partystudent mag in dieser Jahreszeit  zwar die ersten zarten Regungen hormongetriebener Euphorie verspüren. Doch wer sich bereits  selbstversunken die Hände reibt, hat in den langen Wintermonaten nicht nur vergessen, welch absurde Mengen bester Fleischbrühe der menschliche Körper unter diesen Temperaturen produziert, sondern auch die völlig bescheuerte Idiotenklamotte der Geschlechtsgenossen verdrängt. Überall quellen Fetzen nackter Haut unter pinkfarbenen Bauarbeiterhemden hervor und präsentieren die Früchte der eigenen Selbstgeißelung, wo ein bisschen Pelz das Schlimmste verdeckt hätte. Ekelhaft.

Sie ist Laufsteg und Ort hemmungsloser Selbstvergessenheit zugleich: Die Innwiese. Die große Beliebtheit dieses Ortes allein spricht Bände. Zugegeben, die direkte Nähe zum Campus scheint zunächst für diesen tristen Flecken stoppeligen Grüns zu sprechen, doch der Ästhet kommt hier wohl kaum auf seine Kosten. Eine brüllend laute Straße im Rücken, verdecken Bäume im Vordergrund die Sicht auf das, was der Innstrand hätte sein sollen. Es gibt keinen direkten Zugang zum Bier, keinen zum Wasser und kaum Schatten. Allein der Mangel an Alternativen ist es, der immer noch zahllose gelangweilte Studenten und ihre aufgesetzte gute Laune in dieses soziale Straflager treibt. Zumindest ist es erlaubt zu grillen. Fällt dieses letzte Bollwerk mit der Möglichkeit, die gelben Hauer in halb rohen Schweinehals zu schlagen, verliert die Universität Passau endgültig ihre Berechtigung.

Insgesamt scheint der Trend zum Sommer, wie alles andere auch, mit den Fremdstudenten aus dem Norden der Republik zu uns herüber zu schwappen. Der Hang zum Extremen ist dem Eingeborenen fremd. Wenn der Bajuvare eine solche Hitze auf Dauer befürwortet hätte, hätte er sein Land auch ganz wo anders aufgemacht. In vorausschauender Planung und im Angesicht der Gefahr wurde zumindest für ein paar Flüsse gesorgt, die Abkühlung im Ernstfall versprechen. Allerdings herrscht in Passau eine geradezu panische Angst vor dem Wasser. Anstatt sich einfach vom Rathausplatz oder der Innpromenade in die kühlen Fluten zu stürzen, brät man den ganzen Tag in der sengenden Sonne, um sich abends auf engen Booten gegen hunderte verschwitzte und verbrannte Leiber zu pressen. Unter dampfenden Fontänen aus Achselschweiß wird anschließend herumgezappelt so weit es der Platz erlaubt, bis alle gleichmäßig gar sind. Bon appétit.

Der Philanthrop mag den Sinn der Bootspartys im sozialen Miteinander vermuten. Das war wohl auch ursprünglich so angedacht. Die Planung ist allerdings mies. Alle Besucher müssen stundenlang anstehen, um dann viele weitere Stunden nur zappeln zu dürfen. Ein teures Vergnügen, bedenkt man, dass die Boote ohnehin immer nur im Kreis fahren. Eine derartige Orientierungslosigkeit ist selbst durch das Vorhandensein von drei möglichen Flüssen zur Auswahl kaum zu entschuldigen.

„Bist du fertig?“, fragte der Löwe. „Eigentlich“, setzte ich an. „Dann habe ich jetzt etwas zu sagen“, erklärte Hubert bestimmt. „Früher war es deine anbiedernde Art, die mich so oft an der Authentizität deiner Geschichten zweifeln ließ. Heute ist das anders. Deine offensichtliche Ideenlosigkeit bei der Auswahl deiner Themen äußert sich einmal mehr in der schlimmsten aller Belanglosigkeiten. Wenn gar nichts mehr geht, reden wir über das Wetter? Die reine Vernunft verlangt, dass Passau als übergeordnetes Thema in seiner Tiefe erfasst und nicht auf die von dir so oft kritisierte studentische Blase heruntergebrochen wird. Sieh dich an! Du bist fett und faul geworden. Deshalb bin ich dem Verband der Königstreuen in Bayern beigetreten und kämpfe für die Einrichtung einer absolutistischen Monarchie. Dann hast du wenigstens etwas, mit dem du arbeiten kannst.“

„Wie hast du den Aufnahmeantrag ausgefüllt?“, fragte ich. „Außerdem gibt es auch so viel wogegen ich…“ „Ist doch egal jetzt“, brüllte der Löwe und versuchte schnell seine wenig zum Schreiben geeigneten Pfoten unter seinem Körper zu verbergen.

„Ich bin müde“, sagte ich. Wir sahen uns an und wir sahen wieder weg. In diesem Moment wussten wir es beide. Das glühende Plädoyer, es würde nicht kommen. Nicht heute. Nicht bei diesem Wetter.

Mahlzeit.

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Beitragsbild: Eva Fischer