‚Wir sind die Welle‘ – Wie weit würdest du für unsere Zukunft gehen?

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Lilian Köhler Ressortleiterin Musik & Kunst

Mit „Wir sind die Welle“ von Produzent Dennis Gansel, existiert bereits die vierte deutsche Serie, die von Netflix herausgebracht wurde. In insgesamt sechs Folgen wird die Geschichte einer Gruppe von Jugendlichen erzählt, die gemeinsame Protestaktionen durchführen, um gegen gesellschaftliche Missstände zu kämpfen. Diese steigern sich jedoch von Mal zu Mal und drohen schnell aus dem Ruder zu laufen. Angelehnt an die klassische Schullektüre „Die Welle“ von Morton Rhue aus dem Jahr 1981, sowie die gleichnamige Verfilmung – ebenfalls von Gansel, hier allerdings in der Rolle des Regisseurs – widmet sich die Serie aktuellen politischen Themen wie Klimawandel, Fleischkonsum, Profitgier, Rechtsextremismus und Rassismus. 

Die Serie beginnt mit den Protagonisten: verkleidet, um unerkannt zu bleiben. Sie spritzen eine durchsichtige, unbekannte Flüssigkeit in eine mit Wasser gefüllte Plastikflasche, die sie Horst Berndt, dem Parteivorsitzenden der „NfD“ (eine fiktive, rechtsradikale Partei, angelehnt an die AfD) auf einem Parteitag servieren. Diesem wird daraufhin Unwohl zumute, er verlässt taumelnd die Bühne und wird von einer maskierten Truppe von fünf Personen in Gewahrsam genommen.

Die Anfangsszene ist geprägt von durchdringenden Fragen, die unmittelbar an den Zuschauer gerichtet sind. Fragen wie:

„Wie weit würdest du gehen?“

„Was würdest du riskieren für deine Ideale, deine Freunde, für die Liebe, für unsere Zukunft?“

Aussagen wie: „Wir werden die Welt nicht verändern, indem wir uns an die Regeln halten – aber die Welt muss sich verändern. Alles muss sich verändern.“

oder: „Wir stellen alles in Frage, weil es höchste Zeit dafür ist. Und wenn wir Euch damit Angst machen – umso besser!“ werden getroffen.

In der darauffolgenden Szene ertönt der Wecker. Lea (Luise Befort) wacht in der todschicken Bauhaus-Villa ihrer Eltern auf. Ihre erste Handlung am Morgen ist ihr Handy zu checken: Instagram; WhatsApp, um auf dem neuesten Stand zu bleiben. Ihr iPhone X nutzt dabei selbstverständlich das angesagte „Dark Mode“.  Das Ganze ist unterlegt mit dem Billie Eilish Song ‚bury a friend‘ – eine moderne, am Puls der Zeit orientierte Inszenierung.

Fix noch unter die luxuriöse Regendusche, ein gesunder Smoothie als Frühstück, dann mit dem Elektroroller ab in die Schule. Tennis, Unterricht und zwischendurch die Onlinewelt nach neuem Gossip durchstöbern – ein sich wiederholender Alltagstrott in der Luxusvariante.

Dann der radikaler Bruch des immer wiederkehrenden Ablaufs. Der Auftritt des Neuzugangs Tristan (Ludwig Simon) – politisch links orientiert im Sankt-Pauli-T-Shirt, formt er die neue Clique um Lea, Zazie (Michelle Barthel), Hagen (Daniel Friedl) und Rahim (Mohamed Issa).

Die Serie soll Austausch und Sensibilisierung für aktuelle politische Themen fördern                                        

Obwohl die Serie an die Lektüre sowie den Film „Die Welle“ angelehnt ist, unterscheidet sie sich stark von ihnen. Diesmal geht es nicht um Verführbarkeit durch eine faschistoide Gruppendynamik und es ist auch kein initiiertes Schulexperiment eines ambitionierten Lehrers. Diese Geschichte entsteht aus eigenem Antrieb der Jugendlichen, obwohl man, den Neuling Tristan als Zünder der Bewegung bezeichnen könnte.

Die Geschichte spielt in der fiktiven, deutschen Stadt Meppersfeld. Die Kleinstadt, die für ihre Industrie bekannt ist, ist zu plakatiert mit Werbung der rechtsradikalen Partei NfD. Selbst auf dem humanistischen Gymnasium sind rechte Parolen beliebt, und Fremdenhass und Mobbing gehören zum Alltag.

Gansel und sein Team wollten mit dieser Serie am Puls der Zeit sein. Hierfür gingen sie sogar in Schulklassen, um sich der Stimmung zu nähern, die bei dem Großteil der jungen Erwachsenen vorherrscht. Die Feststellung, dass diese deutlich aktiver und interessierter an Politik waren, überraschte das Team sehr.

Eine Bemerkung ließ Gansel seit dieser Begegnung nicht mehr los:

„Die Wende kam mit der Wahl von Trump, als viele Jugendliche das Gefühl hatten: ‚Wir haben es nicht mehr in der Hand‘ ‚und dass sich unbedingt etwas ändern müsse.'“ (Quelle: Deutschlandfunkkultur)

Dies bewog ihn letztlich dazu, der Neuauflage „Wir sind die Welle“ einen anderen Wind einzuhauchen, als er es bei „Die Welle“ getan hat.

Die Meinungen zur Neuinterpretation sind gespalten                                                                                                        

Hitzige Diskussionen dominierten bereits bei Erscheinen des Trailers die Plattform YouTube und auch nach der Veröffentlichung der Serie bleiben die Meinungen gespalten. Kommentatoren beschäftigt hier insbesondere die politische Richtung, die die Serie in den Vordergrund zu rücken scheint. Man habe Sorge vor Verherrlichung von linkem Extremismus der Zuschauer, da die politische Einstellung der Welle-Gruppe in eine linksradikale Richtung überfließt. Doch hier ist die Frage und die Darlegung der Meinungs- und Medienfreiheit besonders hervorzuheben. Laut filmstarts.de habe die Serie eher etwas von alberner Parodie, als von kritischer Analogie.

Deutschlandfunk hingegen, sieht die Serie als eine erfrischend politische deutsche Mainstreamproduktion, die sich am Puls der Zeit orientiert. Mainstream allerdings lediglich, da durch die hohen Klickzahlen auf Netflix eine so große Zahl an Menschen erreicht wird.

AfD ruft zum Boykott der Serie auf                                                                                                                                                 
Für weiteres Aufsehen sorgte die Serie vor allem mit ihrer Parodie der AfD. Denn diese wird kurzerhand zur NfD umbenannt und auch der fiktive Parteivorsitzende weist erstaunliche Ähnlichkeiten mit dem der rechtsradikalen Partei auf. Bei dem Namen Horst Berndt ist es schwer nicht direkte Korrelationen mit Björn Höcke zu ziehen. Das Logo der Partei ist ebenfalls angelehnt an das der AfD. Dieses setzt sich aus einem weißem Schriftzug vor einem AfD-blauen Hintergrund und einem roten Oberarm zusammen.

Die Parodie führt zu einem Aufruhr unter zahlreichen AfD-Wählern, die sogar zum Boykott des Streaming-Anbieters Netflix aufrufen. Unter dem Trailer verbreiteten sich schnell Kommentare wie „Lügenpresse“ oder dass Netflix auch schon zur linksgrünversifften Merkel-Mediathek geworden sei.

Doch nicht nur die Wähler der AfD machten ihre Empörung gegenüber der Serie publik. AfD-Chef Alexander Gauland hat sich ebenfalls über die Serie geäußert und teilte mit, dass für seinen Geschmack die Kunst- und Pressefreiheit viel zu weit gehe und er nun über die Rechtsabteilung der AfD prüfen lassen wolle, wie und ob sie gerichtlich gegen Netflix vorgehen könnten. Auch der Fraktionsvorsitzende der AfD im Thüringer Landtag Björn Höcke, der öffentlich als Faschist bezeichnet werden darf, überlegt auf Grundlage seiner Persönlichkeitsrechte und der unvermeidbaren Ähnlichkeiten die Darstellung des NfD-Politikers Horst Berndt verbieten zu lassen.

Die Serie ist gut produziert, weist allerdings auch einige Mankos auf                                                                                
Die Serie ist es definitiv wert angeschaut zu werden. Sie reißt gesellschaftlich wichtige Themen, die insbesondere die junge Bevölkerung sehr beschäftigen und somit Fragen der Zukunft sind, in einer hochwertigen, modernen Produktion an. Allerdings liegt hierbei auch die Betonung auf „anreißen“. Denn leider fehlt in einer Staffel mit sechs Folgen mit einer Länge von ca. 45 Minuten die Zeit diese Themen tiefgründig genug aufzuarbeiten. Aufgrund dessen werden zwar viele Missstände, jedoch meistens eher oberflächlich behandelt. Die Proteste schweifen ab in viele unterschiedliche Bereiche, um möglichst viel abzuhaken und mit einzubauen, was allerdings auch in mehreren Folgen oder Staffeln Erfolg gehabt hätte. Das Gefühl des durch die Folgen „Durchhechelns“ hätte somit vermieden werden können. Jedoch gibt es auch viele gute Gründe für eine zweite Staffel, der am Puls der Zeit orientierten Serie.

Aber wie weit darf Protest gehen und wo liegen die Grenzen?                                                                                                
Die Grenzen des Protests sowie insbesondere die Sensibilisierung für politische Themen sollen in der Serie gefördert werden. So greifen auch die Titel der einzelnen Folgen bestimmte Gefühle auf, die den Zuschauer gezielt ansprechen sollen. Diese heißen beispielsweise „Kennst du das Gefühl?“, „Was machen wir als Nächstes?“ oder „Es ist der einzige Weg“. Unausweichlich stellt sich der Zuschauer diese Fragen. Beginnt zu überlegen, ob er sich vielleicht mit diesem einzigartigen und doch sonderbarem Gefühl identifizieren kann. Unmittelbar taucht somit die Frage auf, wie stark dieses Gefühl wohl sein muss, um auch wirklich politisch aktiv zu werden.

Was machen wir als Nächstes? Kann Protest süchtig machen? Ist es eine Suche nach dem Kick? Angestachelt von Freunden oder Bekannten mit denselben politischen Interessen und Ideologien. Wird dieses Gefühl immer stärker? Und kann man sich an einem gewissen Punkt noch zügeln, um nicht zu weit zu gehen und nicht über die Stränge hinaus zu schlagen? Denn wann fängt man an blind vor Idealismus zu werden? Wann kippt Euphorie in Dogmatismus? Diese Grenzen werden ebenfalls in der Serie angeschnitten und treiben die Protagonisten zum Teil an ihre Limits. Die perfekte Balance finden, um sich für Veränderung einzusetzen, dabei aber nicht fanatisch zu werden.

Auch stellt sich die Frage, wie Protest denn eigentlich vollzogen werden sollte, um wirklich Veränderung in der Gesellschaft bis hin zur Gesetzgebung herbeizurufen. Ab wann sind Worte allein nicht mehr ausreichend? Als sozialer oder gesellschaftlicher Wandel werden unvorhersehbare Veränderungen bezeichnet, die eine Gesellschaft in ihrer sozialen und kulturellen Struktur über einen längeren Zeitraum erfährt.

Laut dem Soziologen Richard Münch lebt die moderne westliche Kultur in der Spannung zwischen Idee und Wirklichkeit. Die Wirklichkeit sehe allerdings im Lichte der großen Ideen der Freiheit, Gleichheit, Vernunft und fortschreitenden Beseitigung von Leid und Unrecht immer schlecht aus. Ständige Unzufriedenheit mit dem Erreichten sei gleichsam vorprogrammiert, obwohl der Blick zurück sehr oft zeigt, dass inzwischen schon Einiges erreicht worden ist. Doch welche spezifischen Ereignisse führen zu Protest? Hier seien zwei Aspekte wichtig: zum einen der Stachel der Unzufriedenheit, der zu rastlosen Gesellschaftsverbesserungen antreibt, wie beispielsweise die Verschlechterung der Umweltsituation. Zum anderen seien kleine Erfolgserlebnisse essentiell, die dafür sorgen, nicht unseren Mut zu verlieren.

Wie lange dauert die „Aufstauung“ bis zum „Ausbruch“? Gilt hier das Phänomen der Masse? Setzen sich die Menschen eher für etwas ein, wenn es auch andere tun? Desto mehr sich das eigene Umfeld mit einem spezifischen Thema beschäftigt, desto eher lassen sich Personen davon mitreißen. Man taucht ebenfalls tiefer in die Materie ein und beginnt sich emotional an die Thematiken zu binden. Somit ist das Druckmittel der Masse definitiv ein zu berücksichtigendes Element des sozialen Wandels.

Doch um zu unserer Ursprungsfrage zurückzukehren: Wo liegen die Grenzen des Protests? Wann driftet er ab in gewalttätige Ausschreitungen, in Exzesse, die sich nicht mehr steuern lassen? Dies geschieht häufig wenn Demonstranten in einen rauschhaften Zustand kommen; in eine Stimmung, in der die gesellschaftliche Grundordnung umgekehrt wird. Dies könnte man den „Thrill des Aufbegehrens“ nennen, welcher besonders stark sei, wenn die Gewalt an den Staat adressiert wird, da dieser eine anonyme und scheinbar unbeherrschbare Macht ausstrahle. Ein weiterer Grund sei, wenn Gruppen und nicht Einzelpersonen aufeinander treffen. Denn Menschen verändern und verschieben ihre Identität häufig, wenn sie in einer Gruppe aktiv sind. Ihr antisoziales Verhalten werde durch den Schutz der Anonymität in der Gruppe gefördert.

Leben wir in Zeiten des sozialen bzw. gesellschaftlichen Wandels?      

„Eine Rebellion ist keine Revolution. Sie könnte aber am Ende zu einer werden.“ – Bhagat Singh (indischer Revolutionär)

Die große Frage ist nun: Leben wir in Zeiten des gesellschaftlichen Wandels oder sind Demonstrationen wie Fridays for Future bloß ein Trend, der so schnell wieder vergeht, wie er gekommen ist? Kann die Corona-Krise vielleicht sogar unsere eingerosteten Einstellungen ändern und ein neuer Weg in eine umweltfreundlichere, empathischere Welt sein?

Heute befürworten etwa sechzig Prozent der Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren Werte wie den Schutz der Umwelt, zukunftsorientiertes Wirtschaften und soziale Gerechtigkeit. Doch wie viel Durchhaltevermögen besitzen wir? Werden wir uns entmutigen lassen, wenn sich der Wandel nicht schnell genug vollzieht? Lebt die Generation Z denn überhaupt so viel umweltbewusster als ältere Generationen? Eine verbreitete These ist, dass die Jungen aktiv würden, während sich die Alten nicht um die Zukunft des Planeten kümmern. Doch war Nachhaltigkeit in früheren Zeit möglicherweise einfach viel selbstverständlicher, weswegen dieser Lebensstil nicht so breit kommuniziert wurde? Fest steht: Es wurde viel sparsamer mit Ressourcen umgegangen, Dinge wurden restlos verwertet und Konsumgüter gab es nicht im Überfluss. Laut einer Untersuchung des Markt- und Meinungsforschungsinstituts Ipsos ist die Realität der „Generation Umwelt“ allerdings eine andere: Demnach haben die älteren Generationen ein höheres Umwelt- und Klimabewusstsein als die Jungen. Andererseits attestieren die Studienmacher den Jungen eine höhere Verwandlungsbereitschaft.

Viele Menschen hegen die Hoffnung, die aktuelle Corona-Pandemie könnte unser Weg in eine bessere Zukunft sein. Wir sehen nun wie rasch sich unsere Umwelt erholen kann und Hoffnungen auf Wandel, fast schon wie in Nachkriegszeiten, streben auf. Vielleicht werden uns durch diese Krise wirklich die Augen geöffnet, und wir werden lernen unseren Fokus mehr auf die Dinge zu legen, die uns und unserer Umgebung gut tun anstatt der unnötigen Zeiträuber, mit denen wir uns doch viel zu intensiv beschäftigen.

Eines ist klar: Dauerhafte Veränderung bzw. Verbesserung benötigt Zeit und erfolgt in kleinen Schritten. Und für Zeit ist Durchhaltevermögen essentiell. Das Wichtige ist also, dass man sich nicht unterkriegen lässt. Dass man weiterhin für positive Veränderung einsteht. Hierbei allerdings darauf achtet, dies in einem gesunden Maß zu tun, um Euphorie nicht in Dogmatismus kippen zu lassen. Es sei auf jeden Fall zu wünschen, dass diese Krise trotz wirtschaftlicher Schäden etwas in unserer Einstellung verändern kann. Dass wir nicht sofort wieder vergessen, was wir in Zeiten der Isolation zu schätzen gelernt haben, sondern wirklich an zukünftiger Veränderung festhalten – unserer Umwelt zuliebe.

„Wie laut müssen wir sein, um alle aufzuwecken?“. Wenn ihr euch dieser Frage anschließen könnt und euer Interesse für die Serie geweckt wurde, dann könnt ihr euch direkt auf Netflix die erste Staffel ansehen.