Türchen 17: Filzhut und Handschuhe

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Tamina Friedl Ressortleiterin Kultur & Literatur

Filzhut und Handschuhe – Eine Weihnachtsgeschichte

Hin und her. Ein leises Klappern am Kopfsteinpflaster. Hin und her. Der schwarze Filzhut rutschte tiefer ins Gesicht. Immer weiter hin und her. Die Augen geschlossen. Da war er wieder. Immer wenn ich an den vergangenen Abenden auf meinen üblichen Spaziergängen den Dom hinter mir zurückließ, war er da. Meistens ganz allein auf dem schummrig beleuchteten Platz, ein paar Tauben als Gesellschaft und 24 Kerzen im Rücken. Schon am ersten Abend konnte ich ihn lächeln sehen. Zuerst machte ich einen großen Bogen um ihn, hatte das Gefühl, ich könnte sonst eine ganz persönliche Blase zum Platzen bringen. Manchmal ging ich dann einfach mit gesenktem Blick an ihm vorbei. Und bald fiel mir auf, dass ich ihm vermutlich ins Gesicht schreien könnte und er würde es nicht bemerken. An manchen Tagen stand er auch einfach nur still da. Dann lehnte er am Brunnen, hatte den Blick Richtung Himmel gewandt und schwieg. Und an den anderen Abenden da tanzte er. Wiegte sich hin und her, hin und her. Bewegte sich in kleinen Kreisen über den Platz mit sicheren Schritten und einem seligen Ausdruck im Gesicht. 

Heute tanzte er wieder. Ich ging langsam auf ihn zu und folgte seinen Bewegungen mit meinem Blick. Der lange schwarze Mantel schwang mit, die Hände in den schwarzen Lederhandschuhen zogen ihre Kreise. Ich konnte die Lachfalten um seine geschlossenen Augen erkennen, sein ganzes Gesicht gezeichnet von den vielen Jahren, in denen er die Weihnachtszeit bereits erleben durfte. Als ich an ihm vorbei ging, schmunzelte ich. Da war sie wieder. Diese Melodie, die ich seit ein paar Wochen immer wieder im Ohr hatte. Die leisen Töne eines Saxophons, das sanft-schwingend A Merry Little Christmas wünschte. Am Ende des Platzes blieb ich stehen und drehte mich um. Inzwischen hatte er die Augen geöffnet. Ich folgte dem Blick und sah die Lichterkette am Fenstersims. Das Fenster im ersten Stock stand offen. Wie so oft, wenn ich um diese Uhrzeit spazieren ging. Wie so oft, wenn der alte Mann mit Filzhut und Handschuhen am Brunnen stand. Ich sah ihn noch einmal an. Er lächelte noch immer, sah noch immer gebannt zum Fenster. Vielleicht bemerkte er, dass ich ihn beobachtetet, denn nach einem kurzen Moment drehte er den Kopf und seine Augen trafen meine. Er lächelte mich an, ich lächelte zurück. Vielleicht hatte er mich doch bemerkt, immer wenn ich an ihm vorbei gehuscht war. 

17. Dezember

Als vergangene Woche jemand am Fenster im ersten Stock saß, wusste ich, was ich tun musste. Und so lehnte ich heute am Brunnen, noch bevor er überhaupt ankam, ein verheißungsvolles Kribbeln im Bauch. Die Dunkelheit hatte Residenz und Dom bereits umhüllt, Lichterketten glitzerten um den Platz herum. Ich aber hatte das Licht im ersten Stock im Blick. Leise summte ich vor mich hin, während vereinzelt Menschen an mir vorbei spazierten, die einen tief in Gedanken, die anderen tief im Gespräch. Gerade als jemand die Tür des benachbarten Cafés verriegelte, erlosch das Licht. Einige Momente später verließ eine Gruppe junger Menschen das Gebäude, dem ich gegenüber stand. Alle waren sie dick eingepackt, alle trugen sie Kästen auf dem Rücken. Einer nach dem anderen kam zu mir herüber. Es wurden Begrüßungen getauscht, der Platz füllte sich mit Murmeln und Gelächter. Und schließlich mit Musik. Einer nach dem anderen holte aus den Kästen ein Instrument hervor. Scheinbar wild durcheinander flogen Töne durch die Luft. Posaune, Trompete, Klarinette und das Saxophon. Als sich die vielen Töne schließlich zur ersten Melodie zusammenfanden, stellte sich in mir eine warme Ruhe ein. Die Gruppe stand im Halbkreis um den Brunnen herum, die 24 Kerzen auf dem großen Kranz erleuchteten ihre Gesichter. Ich legte meinen Kopf in den Nacken, schaute in den wolkenverhangenen Winterhimmel und spürte die eisige Luft in meinem Gesicht. Mein Fuß wippte wie automatisch im Takt. Und dann sah ich ihn, Filzhut auf dem Kopf, die Hände in den Handschuhen vor dem Bauch gefaltet. 

Er war neben dem großen Christbaum stehengeblieben. Seine Miene konnte ich von hier aus nicht lesen. Wie gebannt starrte er das kleine Orchester an. Auch nachdem die letzten Töne verklungen waren, rührte er sich nicht. Also gab ich das Zeichen. Und das Saxophon trug ihm die ersten Verse von „Have Yourself a Merry Little Christmas“ entgegen. Ich konnte dabei zusehen, wie sich sein Gesicht veränderte. Der Blick wurde weicher, die Schultern sanken tiefer. Nach und nach setzten alle Stimmen ein und fügten sich zusammen. Und langsam, ganz langsam kam er näher. Ich sah den Schwung in seinen Schritten, beinahe tanzend. Sein Blick schien trübe, distanziert. Neben mir kam er zum Stehen, doch er schaute mich nicht an. Hatte nur Augen für die Musik. Beinahe wie von selbst begann er, sich im Takt zu bewegen, immer weiter, bis das Saxophon allein die letzten Töne spielte. Und dann war es still. 

Irgendwann schob er sich den Filzhut aus dem Gesicht und drehte sich zu mir. Er fragte nicht, wer ich war, er fragte nicht, woher die Musikgruppe kam, er stellte nur eine Frage: „Waren Sie es?“ Als ich nickte, kam es mir so vor, als wären seine Augen noch ein wenig glasiger geworden. Er drehte sich einmal ganz langsam um seine eigene Achse, nickte allen zu. Und als er wieder bei mir ankam, fing ich an zu erzählen. Davon, dass ich ihn an so vielen Abenden hier tanzen gesehen hatte. Davon, wie ich jemanden am Fenster im ersten Stock sitzen sah und ansprechen musste, auf seine Musik und auf die Wirkung, die sie auf einen Menschen hatte. Davon, wie wir eine ganze Band zusammengetrommelt hatten, in dem Wissen, dass er immer und immer wieder hierher kommen würde. Als ich fertig war, war es wieder kurz still. Er schüttelte nur den Kopf, ganz leicht. Und dann erwiderte er leise: „Dieses Lied, das sie gerade gespielt haben… es ist das Lied, das mir für einen kurzen Moment meine Frau wieder auf die Erde zurückholt. Jedes Jahr an Weihnachten, wenn all der Trubel vorbei und die Familie aus dem Haus war, haben wir dazu getanzt. Nur wir beide.“ Da sah ich ihn wieder, wie er dem Takt der Musik folgte. Hin und her. Doch sah ich ihn nun nicht mehr alleine tanzen.