Blank Poesie | Die weibliche Ebbe

Marie Baccouche war eine schöne Frau. Die langen Beine, die ebenmäßige helle Haut, die sie immer zu mit der fettenden Creme von Saupignon versorgte, und die langen kupferfarbenen Haare, die sie sich freitags immer im Friseursalon Delacroix aufdrehen ließ, verhalfen ihr zu ihrer eleganten Erscheinung. Nur ihre Nase war etwas zu rund, der Knochen zu flach und breit und die Nasenlöcher zu groß für ihr sonst so schmales Gesicht. Ihre Großmutter – eine dürre, hochgewachsene Frau – war der Ansicht es wäre die Strafe für das Vergehen ihrer Mutter, die sie unverheiratet zur Welt brachte.  Marie war ein anständiges Mädchen, besuchte zuerst die katholische Mädchenschule und anschließend die Hauswirtschaftsschule, die von Simonne De Nezière, einer rundlichen, kleingewachsenen Nonne, die immer zu einen schweren Holzstock, verkleidet mit Eisen an der Spitze, mit sich trug, geleitet wurde. Alle Mädchen Lauris besuchten die kleine Schule am Ende der Rue Saint-Germain-des-prés, die versprach die Mädchen zu guten Hausfrauen, sanftmütigen Ehefrauen und perfekten Müttern zu erziehen.

Es dauerte nicht lange bis Marie das beste Bœuf bourguignon, ein gulaschartiges Gericht, das stundenlang im Kupfertopf gekocht werden musste, bis das Fleisch weich und mürbe wurde, in ganz Lauris machte. Selbst Aurelie, die Frau, die im Backsteinhaus gegenüber wohnte und jeden Sonntag mit ihren zwei grobschlächtigen, etwas zu klein geratenen Kindern eine Reihe vor ihr in der Kirche saß, blieb einen Moment zu lange stehen, wenn das Fenster zum Rauchabziehen geöffnet war. Maries Großmutter, die immer zu die Nase rümpfte, wenn Manon und Camille, zwei schlanke Frauen mit spitzen Nasen und mandelfarbener Haut, die in dieselbe Klasse wie Marie gingen, ihr auf dem Samstagsmarkt begegneten, hatte bald nichts mehr an ihr auszusetzen. Anders als Manon hat sie nie Jean-Phillipe in der Nachmittagspause hinter der Schule getroffen und dafür drei Schläge mit Simmones Stock einbüßen müssen.

Das einzige sündhafte, das sie tat war jeden Montagmorgen fünf Franc aus dem Geldbeutel  ihrer Mutter zu nehmen und sich im Aux Delices Normands süße Kuchen zu kaufen, die sie ganz nach unten in ihre braune Ledertasche legte. Die Küchlein, die nach salzigem Karamell schmeckten, waren ihr die Liebsten, auch wenn sie fürchterlich ihre Zähne verklebten und der süßliche Duft nur schwer aus dem Stoff ihrer Tasche zu waschen war. In einem Herbst kaufte sie besonders viele, weshalb ihre Oberschenkel runder wurden und ihr Bauch mehr Falten warf, wenn sie sich an den runden Esstisch setzte. Ihre Großmutter war fürchterlich wütend, ließ sie nur noch halbe Portionen essen und hörte erst auf zu keifen und zu jammern als sie wieder die Kleider in derselben Größe wie Lucie, der Tochter von Nicole Dupont, tragen konnte.

Ihre Kleidung kauften sie in einer Boutique, die am Ende der Avenue de la Villeneuve lag. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass ihre Großmutter mit ihr noch am selben Tag, als sie von den Hochzeitsnachrichten hörte, in die Stadt fuhr und ihr ein hübsches, veilchenfarbenes Sommerkleid aussuchte, dass ihr über die knorpligen Knie reichte.  Marie konnte es nicht umgehen einen Blick auf die langen, weißen Kleider im Schaufenster zu werfen. Das in der Mitte gefiel ihr am besten, die feinen unzählbaren Perlen glänzten in der Morgensonne und die Spitze, die das feine Dekolletee säumten, formte hübsche Blumen. Der Rock fiel sanft herab, der Stoff, das konnte sie von hier aus erkennen, glänzte als wäre er aus Satin und warf feine Falten, die den Körper einer jeden Frau perfekt umspielen würden. Ihre Großmutter war nicht begeistert über die Hochzeit mit Jonathan Noel, viel lieber wäre ihr Eloy Depont, der Sohn des kahlköpfigen Kaufhausbesitzers, der immer nach schwerem, süßlichem Duftwasser roch.

Marie kannte nur Jonathans Schwester, bevor sie wegzog. Sie saß eine Reihe hinter ihr, meldete sich nicht oft und war eher von stiller Art, obwohl sie eine bezaubernde Stimme hatte. Sie war fast einen Kopf kleiner als Marie, hatte eingefallene Wangen und zu große Zähne für ihren kleinen Mund. Jonathan hatte sie nur wenige Male zu Gesicht bekommen und jetzt, wo er vor ihr saß und ihre Großmutter die mit Salz versetzte Butter reichte, war er genauso wie in ihrer Erinnerung. Nicht hässlich, er hatte keine zu große Nase, kein zu rundes Gesicht oder einen zu speckigen Hals aber auch nicht schön, zu klein waren die Augen und zu eingezogen die Schultern, wenn er den Mund zum Reden öffnete. Immer wieder strich er sich über das weiße, frisch gewaschene Hemd, zog an den Ärmeln und überprüfte ob nicht einer der Knöpfe aufgegangen war.

Er war gewöhnlich, sah aus wie einer der vielen Gesichter, die einen beim Einkaufen auf dem Wochenmarkt begegneten und einem nicht länger im Gedächtnis bleiben. Wenn Marie sich vorbeugte, um nach ihrem Glas zu greifen, konnte sie den herben Duft seines Rasierwassers riechen, der in ihrer Nase kitzelte, wenn sie sich wieder zurücklehnte. Sie fühlte sich nicht wohl neben Jonathan, seine bestätige, stille Art erinnerte sie zu sehr an die vielen Tage in Simonne De Nezières Schule, die alle gleich anfingen und gleich aufhörten. Die Eintönigkeit wirkte auf Marie nicht beruhigend, sie konnte nicht einmal das Ticken einer Uhr in ihrer kleinen Kammer, unterhalb des Speichers, ertragen. Das Warten auf das Vorherbare war die reinste Qual. Es wühlte sie innerlich auf, ließ ihren Kopf weich und mürbe werden, bis sie das Gähnen unterdrücken musste.

Schweißperlen traten auf ihre Stirn, wenn sie an die nächsten Jahre dachte. Morgens um sechs aufstehen, das Frühstück rechtzeitig für Jonathan auf den Frühstückstisch stellen, die Kinder wecken, den Haushalt nachgehen bis Elf, das Mittagessen kochen – eine Variante aus Zehn Mahlzeiten, für die sie jeden Samstag die Zutaten einkaufen würden – entsetzt hielt sie in der Bewegung inne. Die einzige Zeit, die ihr bliebe, wären die wenigen Minuten, wenn die Kinder im Bett lägen und Jonathan schon eingeschlafen wären, sonst würde sie jeden Tag wieder und wieder denselben nachgehen, bis sie sich an die Zeit in der Hauswirtschaftsschule zurücksehnte.

In diesen Moment begriff Marie die Lüge die Simonne De Nezière ihr versucht hatte einzureden, ihre Hochzeit wäre nicht die Erlösung von ihrem eintönigen Leben, die anfängliche Verliebtheit – die Neugierde – würde schnell nachlassen, bis jeder Tag dem nächsten glich. Die einzigen Überraschungen würden die abwechselnden Blumenkarten für ihren Geburtstag sein oder die wenigen Ausflüge mit ihren Kindern. Das Leben wird fünfzig Jahre an ihr vorbei plätschern, ohne große Wellen zu schlagen oder die Strömung zu ändern, bis sie zu alt ist, um sich an die langweiligen Jahren ihrer Jugend zu erinnern. Marie hat Manon insgeheim für die Treffen mit Jean-Phillipe verurteilt, nicht verstanden, wie sie ihre Erziehung und Manieren für etwas Spaß aufopfern konnte, aber jetzt wo sie Jonathan vor sich sah, der pünktlich jede Zehn Minuten auf sein einfaches Uhrgestell blickte, bereute sie es nicht dasselbe getan zu haben.