Inklusion in Deutschland: Ein Realitätscheck

Rebecca Bieling Ressortleiterin Gesellschaft & Politik

Im Rahmen des Europäischen Protesttages für die Rechte von Menschen mit Behinderungen berichten Betroffene in Passau über ihre Perspektiven, Erfahrungen, mangelnde Inklusion und Wünsche für die Zukunft.

Leben im interaktiven Hörspiel

Blind sein bedeutet für Christian nicht Dunkelheit. Vor seinem inneren Auge ziehen viele Farben und Muster vorbei, bewegen und verändern sich. „Ich lebe in einem interaktiven Hörspiel“, beschreibt er schmunzelnd. Als vor zwölf Jahren ein Autounfall sein bisheriges Sehen veränderte, merkte er zunächst gar nicht, dass er blind geworden war. „Ich gehe jetzt anders auf Menschen zu: Ich beurteile sie nicht nach ihrem Aussehen, sondern nach ihrer Kommunikation“, – und das spürt man sofort, als Christian anfängt, offen über seine Behinderung zu sprechen. Vor seinem Unfall hatte er eine Ausbildung im Farbengroßhandel gemacht, wollte aber schon damals nicht in diesem Bereich bleiben und wechselte in den sozialen Bereich. Heute engagiert er sich neben seiner Arbeit ehrenamtlich im Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund, der Menschen sowohl im sozialrechtlichen als auch im privaten Bereich unterstützt. Viele der Ehrenamtlichen sind wie Christian selbst betroffen: Eine Beratung von Betroffenen für Betroffene, eine Peer-Group. Heute ist er Teil einer Veranstaltung, die auf seine Idee zurückgeht. Es ist der 05. Mai, der Europäische Protesttag für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Aus diesem Anlass hat der Verein ‚Gemeinsam leben und lernen in Europa‘, in dem auch Christian ehrenamtlich aktiv ist, einen „Erlebnisparcours durch die Welt der Barrieren“ im Klostergarten organisiert.

Barrieren im Kopf

Als Cheforganisator greift Christian in seiner Eröffnungsrede mehrfach das diesjährige Motto auf: ‚Viel vor für Inklusion! Selbstbestimmt leben – ohne Barrieren‘. Er spricht davon, dass nicht nur physische Barrieren abgebaut werden müssten, sondern auch die in unseren Köpfen. Es gehe viel um das Denken der Menschen, um Berührungsängste und darum, endlich aufeinander zuzugehen. „Das ist auch gesamtgesellschaftlich wichtig: Wir müssen aus unseren Blasen heraus“.

Christian eröffnet die Veranstaltung mit einer Rede.

Zahlreiche Organisationen haben sich zusammengetan, um Einblicke zu geben: Vom Rollstuhlparcours über Alterssimulationen bis hin zum Bewältigen von Aufgaben mit Augenbinde oder der Sensibilisierung für Reizüberflutung. Das Angebot ist vielfältig, die Besucherzahl trotz bestem Wetter aber eher gering. Das zeigt, wie relevant das Thema Inklusion ist – noch immer leben Menschen mit und ohne Behinderung oft mehr nebeneinander als miteinander. Franz und Larissa von ‚Gemeinsam leben und lernen in Europa‘ sehen die Besucherzahlen positiver. Für sie ist es wichtig, dass die Interessierten im interaktiven Kontakt etwas mitnehmen. Im Kleinen verändere man oft mehr und die überschaubare Anzahl an Menschen ermögliche längere und tiefere Gespräche.

Die rote Schleife

‚Wie benutzt man richtig ein Kondom?‘, steht auf einem der vielen kleinen Zettel, die man am Stand der Aids-Beratungsstelle Niederbayern ziehen kann. Eine Frage, die einen schnell in die Welt der Geschlechtskrankheiten katapultiert. ‚Wie würdest du gerne behandelt werden, wenn du HIV-positiv wärst?‘, steht auf einem anderen. Hildegard, die selbst erst seit kurzem hier ehrenamtlich arbeitet, lauscht aufmerksam den Antworten der Besucherinnen und Besucher. Was viele zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen: Sie selbst ist seit 10 Jahren infiziert. Sie erzählt, wie einsam sie sich als Frau mit HIV lange Zeit gefühlt hat: „Wie ein Goldfisch im Wasserglas. Ich wusste, dass es andere gibt, aber ich wusste nicht wo“. Die Aids-Beratungsstelle bietet ihr die Möglichkeit, sich zu vernetzen. „Mein Leben ist jetzt bunter als vorher“, sagt Hildegard, die inzwischen auch an Schulen Vorträge über das Virus hält. Neben Aufklärung und Vernetzung sind Prävention, Beratung und Tests zentrale Aspekte der Beratungsstelle.

Tina, Sarah und Hildegard klären über Aids auf.

Ein Labyrinth von Reizen

‚Kennst du einen Autisten, kennst du einen Autisten‘, sagt ein Sprichwort. Denn Autismus ist ein Spektrum, die Krankheit ist bei allen Menschen anders ausgeprägt. Das erklären Sebastian, der selbst betroffen ist, und seine Mutter. Schon als Kind fiel auf, dass er anders ist. Die Therapeut:innen und die Jugendpsychiatrie in Passau „trauten sich nicht, eine Diagnose zu stellen“. Das habe am fehlenden Wissen und am komplizierten Krankheitsbild gelegen, so Sebastians Mutter. Schließlich verbrachte er drei Jahre in einer Kinderreha im Allgäu und erhielt dort endlich eine Diagnose. Sebastian hat eine abgeschlossene Ausbildung, fand aber keine Stelle auf dem ersten, dem regulären Arbeitsmarkt. Stattdessen arbeitet er nun in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Diese gehört zum zweiten Arbeitsmarkt, also zu den besonders geschützten Arbeitsplätzen. Dieses Konzept ist in den letzten Jahren jedoch zunehmend in die Kritik geraten: Der durchschnittliche Monatslohn von 226 Euro ist weit vom Mindestlohn entfernt und nur wenige schaffen den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt. Sebastian fühlt sich wohl in der Werkstatt, aber die Aufträge werden immer weniger. „Ich brauche eine bessere Absicherung für die Zukunft“, erklärt er und berichtet von zwei Praktika, die er im Laufe des Sommers absolvieren wird. So hofft er, seinen Platz auf dem ersten Arbeitsmarkt zu sichern.

Obwohl Sebastian eigentlich ehrenamtlich für ‚Gemeinsam leben und lernen in Europa‘ arbeitet, steht er heute am Stand des Netzwerks Autismus, um seine Perspektive als Betroffener zu schildern. Anja, Pädagogin im Netzwerk, spricht darüber, wie Barrierefreiheit für Menschen mit Autismus aussehen kann: Es brauche reizreduzierte Ruheräume, denn bei Autist:innen „funktioniert die Filterfunktion oft nicht richtig“. Sebastian plädiert vor allem für schulische und berufliche Förderung, für die Aufklärung von Menschen ohne Autismus sowie für Hilfestellungen im Alltag und Gleichberechtigung bei der Wohnungssuche.

Verstöße gegen das Menschenrecht

Seit 2009 hat Deutschland das ‚Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen‘ der Vereinten Nationen ratifiziert. Im vergangenen Jahr hat ein UN-Ausschuss die Situation in Deutschland letztmalig überprüft und kommt zu dem Ergebnis, dass die bisherige Umsetzung nicht den menschenrechtlichen Anforderungen entspricht. Besonderer Handlungsbedarf besteht beim Abbau von Sondereinrichtungen in den Bereichen Wohnen, Bildung und Arbeit, die einer nachhaltigen Inklusion entgegenstehen. Explizit wird ein konkreter Plan empfohlen, der Menschen den Übergang von Werkstätten in einen inklusiven Arbeitsmarkt ermöglicht.

Es geht darum, endlich miteinander zu leben.

Wo ihr euch informieren und engagieren könnt:

Gemeinsam leben und lernen in Europa: https://gemeinsam-in-europa.de/

Bayrischer Blinden- und Sehbehindertenbund: https://bbsb.org/mitmachen-und-unterstuetzen/

Aids-Beratungsstelle Niederbayern (auf der Suche nach Ehrenamtlichen): https://www.diakonie-passau.de/hier-koennen-wir-helfen/beratungsangebote/aidsberatungsstelle-niederbayern

Netzwerk Autismus: https://www.netzwerk-autismus.eu/niederbayern.html

Amosum (Lebensbegleitung): https://amosum.de/

Epilepsieberatung Bayern: https://epilepsieberatung-bayern.de/