Ich bin Sophie Scholl: Geschichte auf Instagram

Avatar-Foto
Leonie Gaugigl Social Media Managerin

Flugblätter sind ja so 1942, heute gibt es Instagram. Anlässlich des 100. Geburtstags von Sophie Scholl am 9. Mai 1921 startete am 4. Mai, dem Tag, an dem sie sich 1942 auf den Weg zum Studieren nach München machte, ein Social Media Projekt des BR und SWR: Ich bin Sophie Scholl (@ichbinsophiescholl).

Die Seite des SWR beschreibt es als „radikal subjektiv und in nachempfundener Echtzeit […] Ein innovatives Projekt des SWR und BR, das Geschichte lebendig macht“. Doch die Meinungen sind geteilt: Während viele Instagram-Nutzer egal welchen Alters schnell Fans des Projekts wurden – über 900.000 Abonnenten hat der Account schon in den 24 Tagen seit Projektstart gesammelt – stehen andere dem Versuch an lebendiger Geschichte eher kritisch gegenüber.

Sophie Scholl hat jetzt Instagram

Gespielt wird Sophie Scholl von Luna Wedler (Biohackers; Dem Horizont So Nah, Das schönste Mädchen der Welt), 1999 geboren, das heißt sie ist im Moment 21 wie Scholl zu ihrem Todeszeitpunkt.

Die Idee ist nicht neu. Im Jahr 2019 bot @eva.stories Einblicke in die Geschichte eines jüdischen Mädchens namens Eva, das ebenfalls im 2. Weltkrieg lebte. Das Projekt fand im Gedenken an die 6 Millionen Juden, die dem Holocaust zum Opfer gefallen sind statt und basiert auf einer wahren Geschichte. @ichbinsophiescholl, ebenso wie @eva.stories, folgt einem ähnlichen Prinzip wie die funk-Serie DRUCK. Wenn Scholl um 11 an den See zum Baden fährt oder wenn Scholl mit ihren Freunden abends Geburtstag feiert, dann erscheint genau dann eine Story zum Thema. Der Kanal bietet quasi eine live-Berichterstattung über Scholls Leben.

Die Erzählungen des Accounts setzen bei ihrem Umzug nach München an. Nach ihrem Abitur 1940 macht Scholl eine Ausbildung zur Kindergärtnerin, kann dadurch aber nicht wie gehofft dem Reichsarbeitsdienst entgehen. 1942 kann sie dann endlich ihrem Bruder Hans Scholl zum Biologie- und Philosophiestudium nach München folgen, wo sie nach und nach auf dessen Freundeskreis trifft.

Während Anfang 1943 ihr Freund Fritz Hartnagel in Stalingrad kämpft, hilft Sophie das sechste Flugblatt der „Weißen Rose“ zu verfassen und zu drucken. Als sie ebendieses am 18. Februar 1943 mit ihrem Bruder in der Universität auslegt, wirft sie einen Stoß Flugblätter in den Lichthof ab. Was inzwischen zum Symbol des Wirkens der „Weißen Rose“ geworden ist, wird Sophie, Hans und mit ihnen nach und nach allen anderen Mitgliedern zum Verhängnis: Sie werden entdeckt, verhaftet, für vier Tage verhört und am 22. Februar 1943 durch das Fallbeil hingerichtet.

Hier, beim Lichthof-Wurf, sollen wir im Februar 2022 ankommen. Bis dahin folgt der Account weniger symbolhaften Ereignissen von denen Scholl ihrem Freund Fritz in ihren Briefen berichtete oder die anderweitig dokumentiert wurden, etwa durch ihre Schwestern oder die Gestapo-Verhöre vor ihrem Tod. Die Lücken werden mit fiktiven Szenen und verbildlichter Darstellung ihrer Gedanken gefüllt.

Geschichte auf Social Media – Wie geht das?

Der Account fokussiert sich nicht nur auf Sophies Rolle im Widerstand, als NS-Regime-Gegnerin, also den Geschichts-relevanten Teil, sondern auch ihr alltägliches Leben als Studentin, Buch- und Kaffeeliebhaberin im Freundeskreis um die beiden Geschwister. Dabei ist das Ziel nicht ein schlichtes Nacherzählen der überlieferten Geschehnisse. @ichbinsophiescholl soll wirken als hätte es Instagram schon während des 2. Weltkrieges gegeben. Es ist ein Versuch, nachzuempfinden, wie die junge Widerstandskämpferin, die ungefähr im Alter von uns Student:innen ist, sich auf Social Media präsentiert hätte. Dabei machen die Köpfe hinter dem Projekt von allen Tools, die Instagram zu bieten hat, Gebrauch: von normalen Posts über Stories und Reels zu IGTV-Videos.

Am 24. Mai zum Beispiel postet „Sophie Scholl“ ein Video, das zeigt, wie ihr Bruder sie aus dem Zimmer wirft. In der Bildunterschrift schreibt sie „Was soll die kleine Schwester da nicht mitkriegen? Oder nerve ich ihn einfach?“. Abonnent:innen interagieren mit dem Post als wäre tatsächlich Sophie Scholl dahinter, ermutigen sie, stellen ihr Fragen und „Sophie Scholl“ antwortet im Sinn der historischen Timeline. Wenn User:innen fragen „Glaubst du er traut dir nicht mehr wegen deiner Vergangenheit im BDM (=Bund Deutsche Mädel)?“ oder „Wann hast du denn das erste Mal bemerkt, dass du dachtest er ist nicht mehr offen zu dir?“ reagiert „Sophie Scholl“ ganz gemäß dessen, was sie zu diesem Zeitpunkt 1942 gewusst hat. So antwortet sie darauf „ich kann es dir nicht sagen. Seit ich in München [bin] habe ich das Gefühl in mir, er macht etwas ohne mich! Ich versteh nur nicht warum er mit mir nicht offen sprechen kann…“. Kurz darauf folgt am selben Tag ein gezeichnetes Bild von einem Mann mit erhobenem Finger unter dem „Sophie Scholl“ sich darüber auslässt, dass die Männer in ihrem Leben sie bevormunden. Inzwischen hat sie herausgefunden was ihr Bruder hinter ihren Rücken treibt – in einer Nacht-und-Nebel Aktion zu der sie die Follower:innen via Story mitgenommen hat – und verkündete gestern stolz, Teil der „Weißen Rose“ zu sein.

An anderen Tagen postet der Account Zitate aus Scholls Briefen, ihre Gedanken zum Krieg oder Bilder von „Sophie Scholl“ mit ihren Freunden. Jeden Sonntag erscheint ein IGTV-Video mit dem Titel „Meine Woche, das alle Story-Posts der Woche beinhaltet. Hierbei kommt nicht nur Archivmaterial zum Einsatz, sondern auch extra neu kreiertes Video- und Fotomaterial mit u.a. Schauspielerin Luna Wedler oder Max Hubacher als Hans Scholl und Thomas Prenn als Christoph Probst, die beide mit Sophie hingerichtet wurden.

Die Gradwanderungen zwischen Ideen und Anforderungen

Ursprünglich rechnete das Team hinter dem Projekt mit einer Zielgruppe zwischen 18 und 25 Jahren. Inzwischen stellt sich jedoch heraus, dass ungefähr die Hälfte der Follower:innen ein bisschen älter, nämlich 25 bis 35 Jahre sind. Am Ziel des Projekts ändert das nichts: Geschichte soll greifbar gemacht werden und den jüngeren Generationen, nähergebracht werden. Die meisten nämlich kennen die Mitglieder der „Weißen Rose“, wenn überhaupt nur aus denselben alten Geschichtsbüchern.

Im Interview des Spiegels mit Schauspielerin Luna Wedler und Historikerin Barbara Beuys wird erst klar, wie sehr das Projekt eine Gradwanderung zwischen der ursprünglichen Idee, Geschichte zu vermitteln und den Anforderungen des Publikums meistern muss. Der Content muss historisch korrekt, aber nicht langweilig sein, nicht nur nachgespielt, sondern schauspielerisch neu interpretiert, darf nicht zu trocken aber auch nicht übermäßig neumodisch sein. Historikerin Barbara Beuys sieht kein Problem dabei, wenn das Projekt hin und wieder von akkurater Nachstellung abweicht: „Die Masse der Menschen hat nicht studiert und möchte unterhalten werden. […] Wenn gespielte Szenen mit der Persönlichkeit in Übereinstimmung stehen, muss nicht jedes Wort stimmen. Zentral ist: Man braucht eine solide Quellenbasis, auf der man aufbauen kann.“

Zuerst war laut Wedler ein ganz anderer Instagram-Auftritt für @ichbinsophiescholl geplant: „Eine Sophie, die eher als Influencerin agiert, Emojis benutzt und das ganze Trallala.“ Auch die Rolle, die Religion für Scholl und ihre Motivation zum Widerstand gegen das NS-Regime gespielt hat, sollte anfangs nicht so stark beleuchtet werden, da der Glaube für die heutige Jugend einen geringeren Stellenwert einnimmt wie für junge Leute damals. Allerdings entschied man sich dann doch dafür, Sophie Scholl nicht mit aller Kraft ins Jetzt zu holen, sondern sie so authentisch wie möglich, ihrer eigenen Zeit entsprechend darzustellen. Mit Religion, kitschigen Liebesgeständnissen an ihren Fritz und ohne Emojis (aber mit Hashtags).

Gerade dieser Mix aus Fakten und Fiktion ist manchen ein Dorn im Auge. So kritisiert die FAZ die unkommentierte Vermischung von Original-Filmmaterial von Münchens Weltkriegsruinen aus der Wochenschau und Sophie Scholl – Zitaten mit nachempfundenem Sinnieren und nachgestellten oder fiktiven Szenen mit den Schauspielern um Luna Wedler. „Dass hier frei dramatisiert wird, kann man durchaus für problematisch halten.“, schreibt Heike Hupertz. Es ginge nicht um ein seriöse Würdigung Sophie Scholls, sondern um Follower und Popularität auf Social Media zum Preis der historischen Korrektheit.

Sophie Scholl für dich und mich und Jana

Über die Gefahr, dass das Projekt von den falschen Stimmen instrumentalisiert werden könnte, sind sich die Akteure hinter dem Projekt bewusst.

Luna Weder sagt gegenüber dem Spiegel: Obwohl sie Sophie Scholl spiele, würde sie es nie wagen, sich mit der Widerstandskämpferin zu vergleichen. Ganz anders sieht das Jana aus Kassel, eine 22-Jährige, deren Rede auf einer Querdenker-Demo im November 2020 viral geht. Sie fühle sich angesichts der Corona-Politik der deutschen Regierung wie Sophie Scholl – eine Aussage die größtenteils Empörung auslöste. Und auch aus solchen Gründen existiert das Projekt.

So sagt Wedler bezüglich Janas Aussage: „Genau deshalb ist es doch so wichtig, dass wir von Sophie Scholl erzählen und erlebbar machen, wie sie wirklich war. Damit solche Leute sich das anschauen und verstehen, dass sie nicht das Recht haben, sich mit ihr zu vergleichen.“ Sie selbst hat zur Vorbereitung zahlreiche Briefe von Sophie Scholl an ihren Geliebten Fritz, einem Soldaten an der Kriegsfront und viele weitere Dokumente über die „Weiße Rose“ und alle Beteiligten gelesen, um die NS-Gegnerin, die zuerst selbst für 5 Jahre Mitglied im BDM war, so realitätsgetreu wie möglich zu porträtieren.

Dabei ist Ziel des Projekts nicht nur Geschichte zu vermitteln, sondern auch Sophie Scholl als Identifikationsfigur zu beleuchten. Die Intention sei keineswegs die Gegenwart mit der Nazidiktatur gleichzusetzen, meint Regisseur Tom Lass. Tatsächlich aber soll Sophie Scholls Schicksal schon dazu anregen, Fake News, zu hinterfragen.

Festgehalten werden kann jedoch: das Projekt scheint erfolgreich zu sein. Was auch immer nun @ichbinsophiescholl’s Ziel sein mag, zahlreiche Nutzer:innen loben in den Kommentaren die Umsetzung, gestehen, Neues dazu gelernt zu haben, das in den Geschichtsbüchern nur marginal angeschnitten wird und fiebern mit Sophie und CO. mit, obwohl wir alle schon wissen wie ihr ikonischer Flugblatt-Wurf in den Münchner Lichthof endet.