Was wäre, wenn wir alle nur noch eine Sprache sprechen würden? Liest man im Alten Testament, handelt es sich dabei nicht um ein „Was wäre, wenn …“, sondern um ein „Es war einmal …“. Im babylonischen Reich beschlossen die Menschen, einen Turm zu bauen, der bis in den Himmel reichen sollte. Als Gott das sah, griff er ein, um sie in ihrem Ehrgeiz und Größenwahn in ihre Schranken zu weisen. Er ließ sie plötzlich nicht mehr eine, sondern viele verschiedene Sprachen sprechen. Der Turmbau musste abgebrochen werden, die Menschen zerstreuten sich über die ganze Erde.
Sprachvielfalt als Einschränkung, als Grenze menschlicher Möglichkeiten – so lässt sich die biblische Geschichte vom Turmbau zu Babel lesen. Historisch belegt ist sie nicht, doch sie wirft eine bis heute aktuelle Frage auf: Wäre die Menschheit mit nur einer Sprache tatsächlich besser dran?
Mehr als nur Worte
Sprache ist weit mehr als gesprochene oder geschriebene Wörter. „Sprache ist eigentlich alles um uns herum“, sagt Alicia Löw (25), Studentin der Sprach- und Textwissenschaften an der Universität Passau. Schon früh fühlte sie sich zur Sprache hingezogen – geprägt von einer sprachaffinen Mutter und einem Großvater, der als Englischlehrer arbeitete. Heute beschäftigt sie sich intensiv mit Sprachwissenschaft.
„Sprache umfasst alle Systeme von Kommunikation“, erklärt sie – auch Programmiersprachen, tierisches Verhalten und menschliche Laut- und Gebärdensprachen.
Nur weil wir etwas mit Gebärden, mit Gestik ausdrücken, ist es nicht weniger eine Sprache.
Weltweit existieren rund 7.000 gesprochene Sprachen und über 300 eigenständige Gebärdensprachen. Zwar werden 23 Sprachen von über der Hälfte der Weltbevölkerung gesprochen – dennoch ist klar: Wir leben in einer sprachlich pluralistischen Welt.
Ein Plan, der einigt?
1887 entwickelte der Augenarzt Ludwik Lejzer Zamenhof die Plansprache Esperanto. Er selbst sprach Russisch, Polnisch, Jiddisch, Hebräisch, Deutsch, Französisch und Latein und war fasziniert von Sprachvielfalt. In Białystok, seiner multikulturellen Heimatstadt, kam es allerdings immer wieder zu Spannungen zwischen den Einwohner:innen. Zamenhof sah in den Sprachbarrieren die Ursache für Missverständnisse, Diskriminienung und Gewalt.
Zamenhof hoffte, durch eine leicht erlernbare, neutrale Sprache den internationalen Austausch zu erleichtern und Konflikte zwischen Völkern, Kulturen und Religionen zu verringern.
Heute sprechen rund zwei Millionen Menschen Esperanto. Sie schreiben Literatur, machen Musik, betreiben Radiosendungen – alles auf Esperanto. Das Ziel, Unterschiede zu überbrücken, sieht Alicia zumindest unter jenen, die die Sprache sprechen, als erreicht.
Doch im globalen Vergleich bleibt dieser Erfolg klein. Englisch zählt fast 1,5 Milliarden Sprecher:innen. Zamenhofs Idee, Esperanto als weltweite Zweitsprache zu etablieren, ist noch keine Realität. Aber die Hoffnung auf Verständigung bleibt.
Identitätsanker
Im Gegensatz zu Zamenhof erkennt Alicia in einer gemeinsamen Sprache kein Heilmittel gegen Missverständnisse: „Das setzt ja voraus, dass es hier in Deutschland unter allen Menschen, die Deutsch sprechen, keine Missverständnisse gibt.“ Sprache allein könne keine Verständigung garantieren – dafür seien unsere Erfahrungen und Weltansichten zu verschieden.
Insbesondere dann, wenn eine Weltsprache Nationalsprachen verdrängt, sieht Alicia mehr Verluste als Vorteile. Sprache transportiert Werte, Denkweisen, Geschichten – sie schafft Zugehörigkeit.
Wenn Menschen migrieren und ihnen nahegelegt wird, Deutsch zu lernen, schwingt da immer ein Gedanke der Assimilation mit. Also auch, Eigenes ablegen zu müssen.
Wie eng kulturelle Entfremdung mit Sprachverlust zusammenhängen kann, zeigt ein Beispiel aus den USA: In sogennanten „Indianer-Internaten“ wurde im 19. und 20. Jahrhundert indigenen Kindern verboten, ihre Muttersprache zu sprechen – um sie an die christliche, weiße Gesellschaft anzupassen. Heute kämpfen indigene Gruppen für die Wiederbelebung ihrer Sprachen.
Eine einheitliche Sprache mag den Traum einer geeinten Welt beflügeln. Doch wo Wörter verschwinden, schwindet oft auch ein Stück Identität. In einer Plansprache eine echte Kultur zu finden, sei schwierig, sagt Alicia: „Es fühlt sich einfach künstlich an.“
Nicht benannt, nicht gefühlt, nicht gesehen
Alicia erzählt von Begriffen, die sich kaum in andere Sprachen übersetzen lassen. Fernweh etwa – ein deutsches Wort für die Sehnsucht nach der Ferne. Oder Hygge, das dänische Gefühl von wohliger Gemütlichkeit. Im Portugiesischen sagt man Saudade, um eine melancholische Sehnsucht nach etwas zu beschreiben, das man geliebt hat und nun vermisst. Manche Emotionen lassen sich in einer Sprache ausdrücken – in einer anderen fehlen dafür die Worte. Mehrsprachige Menschen berichten deshalb oft davon, dass sie sich in ihren verschiedenen Sprachen unterschiedlich fühlen und verhalten – fast so, als hätten sie mehrere Persönlichkeiten.
Doch nicht nur unsere Ausdrucksmöglichkeiten, auch unsere Wahrnehmung könnte durch eine einheitliche Sprache verarmen:
Wenn wir für etwas ein Wort nicht kennen, dann nehmen wir das auch nicht wahr. Was wir nicht benennen können, verschwindet.
Sprache entscheidet darüber, wer sichtbar ist, wer mitgemeint wird – und wer nicht. Menschen, Erfahrungen und Lebensrealitäten können so aus dem kollektiven Bewusstsein verschwinden.
Denn genauso, wie Sprache Zugehörigkeit schaffen kann, kann sie auch ausschließen – etwa, wenn man in einer Arbeiter:innenfamilie mit Fachbegriffen und Fremdwörtern um sich wirft, erklärt Alicia. Sie ergänzt:
Sprache kann auch entmenschlichen, wenn man Begriffe benutzt, die verletzen oder respektlos sind.
Jede:r müsse selbst entscheiden, wie man spricht, sich dabei der Wirkung des Gesagten bewusst sein und dafür Verantwortung übernehmen.
Sprache macht, wer Macht hat
Eine Sprache für alle – aber wer würde entscheiden, wie diese Sprache aussieht?
„Vermutlich die Menschen, die mächtig und privilegiert sind, irgendwo in der Politik sitzen“, glaubt Alicia. Sprache mache schließlich immer auch Hierarchien sichtbar.
Wenn Alicia das Gedankenexperiment einer einheitlichen Sprache durchdenkt, stößt ihr vor allem der Zwang auf, der damit verbunden wäre, sie durchzusetzen.
Auch wenn die Beweggründe für eine Plansprache unterstützenswert erscheinen, hadert Alicia mit dem Anspruch auf Neutralität:
Esperanto ist stark europäisch geprägt. Es soll einfach zu erlernen sein – aber für wen? Für Europäer:innen vielleicht schon, aber was ist mit Menschen, die ganz andere Sprachsysteme gewohnt sind? Das ist dann gar nicht mehr so neutral.
Und ganz gleich, wie man es dreht: Eine Lautsprache schließt Gehörlose aus, Gebärdensprache Blinde. Die große Vielfalt an menschlicher Erfahrungen in einer einzigen Sprache unterzubringen, erscheint wie ein Ziel, das sich mit jedem Schritt weiter entfernt.
(Un)sterbliche Sprachen?
„Eine einheitliche Sprache ist ein toller Gedanke. Aber ich glaube, das ist in der Theorie schöner und praktischer als in der Praxis.“, findet Alicia. Plansprachen seien ein Bonus, aber eine konsequente sprachliche Vereinheitlichung gäbe ihr nichts. Zu groß wären die Verluste an Identitäten, Perspektiven, Kulturen.
Ihr wäre es wichtig, Heimatdialekt und Muttersprache nicht für etwas Fremdes aufzugeben, bei dem sie nicht wisse, ob sie sich noch gut ausdrücken könne. „Ich würde wahrscheinlich Jahre brauchen, um die Bücher, die ich lese, in derselben Geschwindigkeit wieder lesen zu können.“
In der Geschichte vom Turmbau zu Babel wirkt die Sprachenvielfalt wie eine göttliche Strafe. Alicia sieht darin ein Geschenk. Würde es je zu einer einheitlichen Sprache kommen, würde sie sich dagegen einsetzen. Für wahrscheinlich hält sie es aber nicht. Die UNESCO schätzt, dass bis Ende des 21. Jahrhunderts nur noch die Hälfte aller heute gesprochenen Sprachen existieren wird – und trotzdem:
Ich denke, bevor wir unsere Sprachvielfalt verlieren, gibt es die Menschheit sowieso nicht mehr. Irgendwann werden wir Menschen aussterben – und ich wäre überrascht, wenn dann alle eine Sprache sprechen würden.“
Und so könnte uns unsere Sprachvielfalt überdauern – weil sie mehr über uns erzählt, als wir selbst je in Worte fassen können.
Hinweis: Dieser Artikel ist Teil der Themenwoche Sprache des Passauer Campusmagazin blank. Mit dieser Themenwoche möchten wir verschiedene Perspektiven auf Sprache sichtbar machen und zur Auseinandersetzung mit ihrer Komplexität anregen. Wir erheben dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern möchten lediglich einige der vielen Facetten beleuchten. Weitere Beiträge zum Thema Sprache erscheinen im Laufe der Woche (23. bis 29. Juni 2025) – hier, auf unserem Instagram-Account sowie auf Spotify.