Von WLAN und WASSER – ein jesidisches Mädchen und ihre Flucht aus dem Irak

„I hoa heid koa Zeid ned“, sagt sie und lacht dabei laut. Kein ungewöhnlicher Satz für ein 18jähriges Mädchen, welches in der bayerischen Provinz nahe der Tschechischen Grenze lebt. Ihre dunklen Augen leuchten vor jugendlicher Leichtigkeit. Ihre braunen, zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haare wippen hin und her.  Ungewöhnlich ist jedoch, dass sie erst seit gerade mal einem Jahr in Deutschland ist und noch viel kürzer in der oberpfälzer Asylunterkunft. Über die Türkei, Ungarn und Österreich gelang ihr die Flucht aus dem Irak. Konstante Angst hat Hajat* auf ihrem Weg nach Deutschland begleitet. Schlimm sei die Flucht gewesen: Kein Wasser, kein Essen, dafür skrupellose Schleuser. Aber das ist ihr egal, denn sie hat ihr Ziel erreicht. Sie ist in Deutschland, in Sicherheit und nicht nur sie, sondern auch ihre ganze Familie. Hajat, ihre drei Schwestern und ihre drei Brüder. Ihre Eltern leben mit ihr gemeinsam in der Unterkunft.

Teil einer Minderheit 

Hajat ist Jesidin, eine aus dem Nordirak, Teilen Syriens und der Türkei stammende religiöse Minderheit mit geschätzt etwa 100.000 Anhängern. Eine kleine, unauffällige Gruppe von Menschen, die durch den IS immer mehr in die Schlagzeilen gerät. Im Irak leben Jesiden und Muslime mehr oder weniger friedlich nebeneinander. Sie reden nicht viel und sie teilen kein Essen. Größere Konflikte bleiben aber aus. Anders sieht das mit dem IS aus. Die Terrormiliz beschimpft die friedliche Gruppe als gottlos.  Folglich wurden bereits 3.800 jesidische Frauen gedemütigt, verschleppt, und vergewatigt. Die Dunkelziffer liegt vermutlich noch weit höher.  Vereinbaren lassen sich die Vergewaltigungen mit der Moral der Islamisten wohl nur dadurch, dass der Verlust der Jungfräulichkeit der Mädchen als Kränkung und Schande für die Familie gesehen wird. Der IS möchte somit den Männern das Gefühl geben, versagt zu haben beim Schutz ihrer Familie. Das Vorrücken des IS war auch ausschlaggebend für die Flucht von Hajat. Als sie von der Schule nach Hause kam, nahm ihr Vater sie zur Seite und sagte: „Nimm das Geld und lauf davon“. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der IS schon 30 Minuten von ihrer Heimatstadt Nineveh entfernt. „Es ist wichtig, dass die Mädchen zuerst fliehen“, meinte ihr Vater, „denn die will der IS.“ Hajat flieht zu Fuß mit einem ihrer Brüder. Stundenlang laufen sie nachts umher. Aus Angst vor der Polizei untersagen ihnen die Schlepper Pausen oder Telefonate mit den Eltern. Viele ihrer Sachen lassen sie aus Erschöpfung zurück. Trotzdem erzählt Hajat lachend von ihrem Bruder. Er habe versucht sie zu zwingen das Wasser aus einer Pfütze zu trinken, aber das wollte sie nicht. „Auf der Flucht hat man gelernt was wichtig ist“, sagt sie ernst. Man lernt, was man im Leben wirklich braucht: Wasser.

Diese Erfahrung habe sie verändert, positiv verändert. Hajat ist stark und engagiert. Sie sieht alles positiv, versucht aus jeder Situation das Beste zu machen. „Ich denke gern an die Zeit der Flucht zurück, sie war schlimm, aber manchmal auch lustig.“ Resilienz nennt man dieses Phänomen der Krisenbewältigung, weiß Kinderpsychologin Miriam Müller-Kuhr.
Wild mit den Händen gestikulierend berichtet Hajat davon, wie die Mädchen in türkischer Gefangenschaft sich neue Namen und Familienstammbäume ausgedacht haben, wie sie gelacht haben, wenn jemand seinen eigenen Namen, oder den des Vater vergessen hat, wie sie gekichert haben und die Polizei nie verstanden hat, warum. Ein unglaubliches Talent, selbst in einer solche Situation, noch immer die  Leichtigkeit nicht zu verlieren. Grund dafür war auch ihr klares Ziel vor Augen: Deutschland. Trotz allem lässt sie sich nicht aus der Ruhe bringen. In Österreich arbeite sie als Dolmetscherin für andere Jesiden. Schon hier wird ihr unglaubliches Sprachentalent und ihre Barmherzigkeit deutlich. Als ihr Bruder mit ihr endlich nach Deutschland will, bittet sie um noch ein paar Tage mehr in Österreich, um noch etwas weiter übersetzen zu können.

Die Nachwehen der Flucht 

Leider kommen nicht alle Geflüchteten mit dem Erlebten so gut klar, wie Hajat. Laut Untersuchungen der psychologischen Forschungs- und Modellambulanz für Flüchtlinge der Universität Konstanz leiden 40% der AsylbewerberInnen unter posttraumatischen Belastungsstörungen, welche leider oft nicht erkannt werden. Bei einem Trauma handelt es sich um ein belastendes Ereignis, welches bei fast jedem eine tiefere Verstörung hervorrufen würde. Symptome sind zum Beispiel das „Wiedererleben“. Gewisse Gerüche, Situationen oder Personeneigenschaften führen dazu, dass die betroffene Person das verstörende Geschehnis noch einmal durchleben muss. Hajat erzählt von ihrer 10-jährigen Schwester. Männer mit langem dunklen Bart würden ihr Angst einflößen. „Hajat“, sagt sie dann panisch, „der Mann ist von der ISIS!“.

Der Staat stellt den Asylunterkünften und Betreuern Geld für psychologische Behandlungen der Flüchtlinge zur Verfügung. „Geld ist erst mal nicht das Problem“, meint Manfred Weiß, Koordinator des Asylehrenamts der Diakonie. „Es fehlt an der Erkennung der Belastungsstörung. Selbst eingängige Gespräche geben oft keine Hinweise. Man müsste alle Mitarbeiter, Lehrer, Betreuer und Familien schulen oder allen psychologische Betreuung zur Verfügung stellen. Dies ist aber schier unmöglich. Werden dann doch mal Probleme festgestellt, gibt es nicht  genug Psychologen. Mit einem Jahr Wartezeit muss man rechnen.“ Ein Problem stellen auch die Asylverfahren dar. Die Angst vor einer unsicheren Zukunft stößt viele noch weiter in die Depressionen. Besonders gefährdet für eine posttraumatische Entwicklungsstörung sind Kinder. Knapp 43.000 Asylanträge wurden alleine dieses Jahr von Kindern unter 4 Jahren gestellt, 166.000 von Minderjährigen. Auch 17% der Flüchtlinge, die in Hajats Unterkunft leben, sind noch unter 18.

Integration

„Ich bin auch noch ein Kind“, meint die 18jährige lachend, ans Heiraten denke sie noch nicht, wichtiger ist ihr erstmal die Ausbildung. Auch ihr Asylantrag wurde noch nicht genehmigt, der einzige noch ausstehende in ihrer Familie. Im Moment besucht sie die Berufsschule. Sie will sich um Kranke kümmern, wie ihr Vater. Der arbeitete im Irak als Krankenpfleger. Aber eigentlich hat sie Größeres vor. Ein Medizinstudium soll der nächste Schritt sein, ein Schritt, den dieses ehrgeizige Mädchen mit Sicherheit gehen kann. In einer Woche beginnt ihr Praktikum im Krankenhaus. Schon jetzt arbeitet sie in ihrer Unterkunft als Übersetzerin. Vom Jugendamt erhält sie einen Euro in der Stunde, als Anerkennung für ihre Bemühungen und ihre bereits perfekten Sprachkenntnisse. Ihre lackierten Finger liegen ineinander gefaltet auf dem Tisch. Stolz berichtet sie davon, welche Wörter sie schon gelernt hat. Sobald sie ein unbekanntes Wort hört, soll es ihr jemand aufschreiben. Jeden Tag ein neues Wort, lautet ihre Devise. „Spitzohr“ und „Kriminalpolizei“, sind ihre neuesten Errungenschaften. Kindern und jungen Menschen fällt es prinzipiell leichter neue Sprachen zu lernen. Alzběta, eine tschechische Studentin, die in den Ferien Flüchtlingskinder ehrenamtlich betreut, beschreibt dieses Phänomen akkurat: „Die Kinder sind wie Schwämme, die saugen sämtliches Wissen  auf. Die meisten sprechen schon perfekt deutsch. Manche haben auch schon einige tschechische Wörter von mir aufgeschnappt.“

So funktioniert Integration. Auch Freunde hat Hajat in der Integrationsklasse der Berufsschule bereits gefunden. Manchmal treffen sie sich in der Stadt und essen ein Eis. Ihre Eltern haben damit kein Problem, sie vertrauen ihrer kleinen Hajat. Zum Geburtstag schenken sie sich in der Klasse gegenseitig H&M Gutscheinkarten. Jeder gibt einen Euro. Das wäre im Irak nicht möglich gewesen. Sie hat das Haus eher selten verlassen und meistens nur mit männlicher Begleitung. Es war dort, anders als noch vor einigen Jahren, einfach zu gefährlich auf den Straßen. Ihre Kindheit war sehr schön, erzählt sie mit leuchtenden Augen. Sie vermisst die bunten, fröhlichen Feste in ihrer Heimat, die vielen Hochzeiten und Familientreffen. Doch über eine Rückkehr denken sie und ihre Familie absolut nicht nach. „Meine Heimat und meine Zukunft ist jetzt hier“, meint sie. „An manches muss man sich erst gewöhnen, die Pünktlichkeit und die Genauigkeit zum Bespiel, aber die Menschen sind so freundlich zu uns. Mir gefällt es hier sehr gut.“, sagt Hajat, die bereits zehn Minuten vor unserem Gespräch eingetroffen ist. Schon ziemlich deutsch.

Anderen rät sie, sich zu bemühen. „Lernt die Sprache! Wer die Sprache nicht kann ist blind und taub. Geht in die Stadt, fragt nach dem Weg, fragt nach einer Person, die ihr sucht. Redet einfach! Dann lernt ihr ganz schnell.“

What doesn´t kill you makes you stronger

Das was ich auch aus diesem Gespräch gelernt habe ist, wie froh wir sein müssen, am Leben zu sein. Und, dass wir positiv in die Zukunft schauen sollten, was auch immer kommt. Eine Situation ist nie so ausweglos, wie sie scheint. Und falls Ihnen einmal Zweifel kommen sollten, dann denken Sie an Hajat, die selbst in der  türkischen Gefangenschaft mit ihren Freundinnen gelacht und den Mut nie verloren hat.
Bei der Verabschiedung wird sie bereits für einen weiteren Dolmetscherauftrag angeworben. Trotz parallelem Termin mit ihrer Familie beim Arbeitsamt versucht sie eine passende Uhrzeit auszuhandeln. Übersetzen lässt sie sich nicht entgehen.

Hajats größter Wunsch ist es, einmal schnelles WLAN zu besitzen. Und ich hoffe, dass sich dieser Wunsch bald erfüllen wird, genau wie die Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland, als erster Schritt in eine sichere Zukunft.  „Servus!“

*Name im gesamten Text geändert