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Einfach Weiterleben

Neuanfang in einem fremden Land

24.02.2022 – Kyjiw

„Nicht schon wieder“, denkt Ella. Schon wieder dieser ohrenbetäubende Krach, durch Raketen und Bomben, die ihre geliebte Stadt zerstören. Schon wieder diese schreckliche Angst. Schon wieder umziehen, woanders neu anfangen. „Das ist nicht mein erster Krieg“, erzählt Ella, „und doch ist alles anders. Alles ist viel größer und schwieriger“. Größer sind die Herausforderungen, die auf sie zukommen. Schwieriger ist es, diese zu meistern.

Schwierige Zeiten lassen uns Entschlossenheit und innere Stärke entwickeln

Dalai Lama

Heute ist Ella 21. Doch so jung wirkt sie nicht. Es ist nicht ihr äußerliches Erscheinungsbild, dass sie älter wirken lässt, es ist ihre Ausstrahlung. Betritt Ella den Raum, sieht man eine blonde, starke und selbstbewusste junge Frau, die mit ihren rot geschminkten Lippen ein charmantes Lächeln formt. Sie wirkt sehr sympathisch und im ersten Moment unbeschwert. Doch als Ella von ihrer Geschichte erzählt, wird klar, dass das Gefühl von Unbeschwertheit in den jüngsten Kapiteln ihres Lebens eine Seltenheit war.

Nachdem der russische Präsident Wladimir Putin im Jahr 2014 die beiden Gebiete Donezk und Luhansk zum ersten Mal angegriffen hatte, mussten Ella und ihre Familie von ihrem damaligen Heimatort, einer kleineren Stadt in der Nähe von Luhansk, wegziehen. „Damals war ich noch sehr jung, ungefähr elf oder zwölf Jahre alt. Mir ist es nicht so dramatisch vorgekommen. Klar, man hörte die Explosionen und es herrschte sicher Krieg, aber niemand hat wirklich verstanden, was passiert.“ Selbst dieser Umzug – im selben Land – war für sie und ihre Familie hart. „Die Ukraine ist unglaublich groß. Es waren ca. 900 Kilometer von unserer Stadt bis nach Kyjiw. Ein langer und gefährlicher Weg. Überall auf der Strecke war das Militär mit seinen Maschinen. Das war stressig“. Ella schüttelt in Gedanken versunken ihren Kopf.

Das zweite Mal neu Anfangen

„Als wir 2022 dann wieder fliehen mussten, dachten wir anfangs, dass nach zwei bis drei Wochen alles wieder vorbei ist. Nie hätte ich gedacht, dass mir so etwas nochmal passiert. Dass ich mir nochmal ein neues Leben aufbauen muss.“ Doch es passiert wieder. Statt nur einer anderen Stadt, diesmal ein anderes Land. Eine andere Sprache. Eine andere Mentalität. „Mein Papa macht immer Witze, dass wir noch nicht oft genug umgezogen sind“, schmunzelt Ella. Als sie diese Sätze ausspricht, scheint es, als würden plötzlich die kaum ersichtlichen Ringe unter ihren Augen dunkler werden. Sie sieht erschöpft aus. So als würde die Erinnerung an das Geschehene an ihren Kräften zehren.

Ella erzählt, wie sie am 24.02.2022 zuerst nach Moldau zu Bekannten fuhren. Dort blieben sie für ein paar Wochen, bis sie sich dann sicher waren: in der Ukraine leben ist für sie keine Option mehr. Anfangs war der Plan in Österreich neu zu beginnen, doch dort hat es ihnen dann doch nicht so gefallen: „Die Österreicher sind nicht so freundlich gewesen“. Nachdem eine Bekannte ihnen geraten hatte, nach Deutschland zu kommen, haben sie es schließlich dort versucht.

In Wemding. Einer sehr ländlich gelegenen Kleinstadt im Donau-Ries (Bayern) mit ca. 5781 Einwohnern. Nicht gerade perfekt für Neuankömmlinge ohne Sprachkenntnisse, die gerne Anschluss finden möchten. „Für meine Schwester, war das das Schlimmste“, erinnert sich Ella. Als sie nach Deutschland gekommen sind, war diese erst 14 Jahre alt. Eine richtige „Teenagerin“ also. „In dem Alter sind Freunde das Wichtigste. Meine Schwester hat anfangs viel geweint“, beschreibt Ella betrübt. „Zuerst musste sie sich von ihren Freunden trennen, und dann wurde sie, ohne ein Wort Deutsch zu verstehen, direkt in die Schule geworfen und musste, wie jeder andere in ihrer Klasse, Hausaufgaben abgeben. Fast unmöglich“.  Nicht nur Ellas Schwester hatte mit dieser Herausforderung zu kämpfen. Derzeit befinden sich laut Angaben der Kultusministerkonferenz über 200.000 ukrainische Flüchtlinge in deutschen Schulen. Einer repräsentativen Forsa-Umfrage der Robert Bosch Stiftung im November 2022 zufolge, schätzen 59 Prozent der Schulleitungen ein, dass ihre Schule keine Förderung von Schüler:innen mit wenigen oder keinen Deutschkenntnissen gewährleisten kann. Ohne Deutschkenntnisse keine Hausaufgaben. Kein Unterricht. Keine Schule.

Der Highspeed-Deutschkurs

Auch Ella ist bewusst: Das Erste, dass sie in Deutschland erreichen muss, ist die Sprache zu erlernen. Sie schließt einen Anfänger- und später auch den B2-Kurs ab. Doch das reicht Ella noch nicht. Sie findet über das Internet einen C1 -Intensivsprachkurs in München. Mit Glück bekommt sie dort eine eigene Wohnung und verbringt ein Jahr in der bayerischen Landeshauptstadt. „Ich habe die Zeit dort sehr genossen. Hier konnte ich viele neue Leute und auch wahre Freunde aus aller Welt kennenlernen“, schwelgt sie in Gedanken.

Ella genießt ihre Zeit in München

Studieren im Krieg

Doch diese schöne Zeit hält nicht lange für Ella an. Im September 2023 muss sie zurück nach Kyjiw. Ella studiert nämlich in der ukrainischen Hauptstadt. Trotz des Krieges. Aus ihrem normalen Präsenzstudium wurde nun ein Fernstudium. Da sie nicht alle Prüfungen online absolvieren kann, muss sie ca. jedes halbes Jahr zurück in ihre Heimatstadt und sich eine Woche lang nicht nur dem Prüfungsstress, sondern auch der Angst vor Angriffen stellen. „Diese Woche war wirklich sehr kräftezehrend für mich. Die ersten zwei Nächte habe ich mich nicht getraut einzuschlafen. Die Sorge, etwas könnte passieren, während ich schlafe, war zu groß. Mein Vater, der schon an all das gewohnt war, meinte dann zu mir: Leg dich schlafen, du merkst das dann schon“, erzählt Ella schmunzelnd.

Sie alle haben graue Gesichter

Ella

Ihr Vater arbeitet in der Datenschutzabteilung des Militärs und kann deshalb nicht die Ukraine verlassen. „Wenn es um Kyjiw mal wieder schlechter steht, machen wir uns alle viele Gedanken um ihn. Vor allem, da er in diesem Bereich arbeitet“. Ella schaut bedrückt auf den Boden. Ihre Augen füllen sich ein wenig mit Wasser, doch eine Träne fließt nicht. Nicht, weil sie nichts empfindet, sondern weil sie schon zu viele vergossen hat. Sie ist abgehärtet. So geht es jedoch nicht nur ihr: „Die Menschen in der Ukraine sehen alle so müde aus. Sie haben graue Gesichter“, schildert Ella. „Wenn man heute in Kyjiw mit dem Bus oder der Straßenbahn fährt, fangen die Leute an zu streiten und sie schreien sich an. All diese Wut und der Ärger, der sich in ihnen anstaut, kommen dann heraus. So etwas habe ich früher, vor dem Krieg, nie erlebt“. Nach diesen Eindrücken beschließt Ella für sich, das Leben in der Ukraine vollkommen hinter sich zu lassen. „Ich mache meine Prüfungen noch fertig, doch sehe dann meine Zukunft in Deutschland. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen mit dieser Angst zu leben. Die Leute sagen zwar, dass man sich daran gewöhnt, aber das ist doch auch nicht normal“. Nicht nur Ella hat die Entscheidung getroffen, Schutz und Sicherheit in einem anderen Land zu suchen. Stand 14.03.2024 befinden sich der United Nations High Commissioner for Refugees zufolge ca. 6.486.000 ukrainische Flüchtlinge in anderen Ländern. „Mir ist bewusst, dass nicht alle die gleichen Möglichkeiten haben. Trotzdem habe ich meine Chance ergriffen und hier in Deutschland mit meiner Familie einen Neuanfang gestartet“, sagt Ella mit fester Stimme.

Die Kunst ist, einmal mehr aufzustehen, als man umgeworfen wird

Winston Churchill

Im Juli stehen Ellas letzte Prüfungen für ihr Studium an. Nur noch einmal muss sie sich der Furcht und dem Schrecken des Kriegsgebietes stellen. Den Bachelor für Verkehrslogistik hat sie zwar dann in der Tasche, doch in diesem Feld arbeiten, möchte sie nicht. Der Beigeschmack des Krieges hat ihr den Spaß an ihrem Studium und auch den an ihrem Fach genommen. Doch Ella sieht das positiv. Jetzt kann sie einiges ausprobieren und sich selbst neu entfalten. Im September geht es damit auch schon los. Sie beginnt eine Ausbildung als Kauffrau für Versicherungen und Finanzanlagen in Wemding. Auf die Frage, warum sie sich dafür entschieden hat, entgegnet Ella: „In der Ukraine schließt man vielleicht zwei bis drei Versicherungen ab. Haus-, Auto-, Krankenversicherung.  Ich fand es interessant, dass es in Deutschland ganz anders abläuft. Hier wird einfach alles versichert“. Um Ellas Augen bilden sich Fältchen und ein leises Lachen ist zu hören. Etwas, was beim Erzählen dieser Geschichte nur selten vorkommt. „Ich bin eine Person, die nach vorne schaut. Die einfach weiter macht. Herumsitzen und Warten ist nichts für mich“. Diese Beschreibung passt wie angegossen. Optimistisch entgegnet sie: „Ich bin sehr froh, dass ich nach Deutschland gekommen bin. Es gab zwar viele Schwierigkeiten, beispielsweise nicht nur die Sprache, sondern auch die deutsche Bürokratie, aber ich bin dadurch gewachsen. Außerdem konnte ich hier echte Freundschaften schließen, die mich gerade bei solchen Hindernissen unterstützen. Für mich persönlich ist Deutschland super, um neu anzufangen.“

Der Krieg in der Ukraine wird vermutlich noch längere Zeit andauern. Niemand weiß, was noch passieren wird. Doch statt im Entsetzen der Vergangenheit und in der Angst vor der Zukunft zu verweilen, lebt Ella einfach weiter.

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