Glamour-Krankheit Magersucht?

Zerknirscht beißt sich Ellen auf die Unterlippe, als sich die Nadel der Waage langsam einpendelt. Das enge Feinrippunterhemd umhüllt nur ansatzweise ihren abgemagerten Körper. Die Schulterblätter treten deutlich hervor, die Schlüsselbeine scheinen bald aus der gespannten Haut zu ragen und die Wirbelsäule zieht sich wie ein langer, dicker Stock vom Kopf abwärts durch den Rücken. „Weißt du was der Körper verbrennt, wenn kein Fett mehr da ist?“, fragt die Krankenschwester. „Muskeln, Organgewebe. Bald wirst du rumschlackern, wie ein Fisch ohne Greten.“

 

In der Netflix Produktion „to the bone“ verkörpert Lily Collins, die ebenfalls an Magersucht litt die 20-jährige Ellen, die schon seit Jahren gegen ihre Essstörung kämpft und dabei stets gegen Therapeuten, Eltern und sämtliche Regeln rebelliert.    

Die Kritik seitens Psychologen und Hilfsvereinen ist groß. So formulierte der britische Hilfsverein für Essstörungen „Beats“ ein Statement, samt Warnhinweisen für Zuschauer von „to the bone“. Zwar mache der Film deutlich, dass Anorexie und andere Essstörungen ernste psychische Krankheiten sind, doch „die Wahrscheinlichkeit liegt hoch, dass Menschen, die an Essstörungen leiden, durch den Film getriggert oder unter enormen Stress gesetzt werden“, heißt es in einem Statement des Hilfsvereins. Beats macht dabei vor allem das Zeigen konkreter Verhaltensweisen und Kalorienangaben verantwortlich. Ellen macht Sit-Ups vor dem Schlafen, während ihre Bettnachbarin ihre Kotztüte heimlich unter dem Bett versteckt. Zwischendurch trinkt sie immer wieder große Mengen an Wasser, um ihren Hunger zu stillen und spuckt ihre Frühlingsrollen während eines Dates in einem Chinaimbiss nach dem Kauen in eine Serviette.

Wer das Thema Magersucht verfilmt, steht vor einer großen Herausforderung. Es ist ein schmaler Grat, Magersucht als ernstzunehmende psychische Erkrankung darzustellen ohne dabei einen Nachahmungsprozess bei den Zuschauern in Gang zu setzen. In letzter Zeit wagten sich verschiedene Produktionen an dieses Thema.

Die neue BBC-Serie „Overshadowed“ nutzte dafür ein innovatives Format: einen YouTube Blog. Aus der Perspektive der jungen Imogene (Michelle Fox) scheint die Serie einen realistischen Einblick in die Entwicklung und die Welt einer Magersüchtigen zu geben. In insgesamt acht Episoden erzählt sie ihren Followern von ihren Erlebnissen und dem ganz normalen Alltag einer irischen Schülerin. Während Ellen in „to the bone“ bereits seit einigen Jahren mit der Krankheit kämpft, erzählt „Overshadowed“ die Entwicklung von Imogene, die sich von einer selbstbewussten und lebensfrohen Teenagerin zur isolierten Magersüchtigen wandelt. Immer dabei ist ihre Kamera. Mit dem Erscheinen von Anna (Eva O’Connor), die sie stets begleitet und mit Kommentaren dazu bringt, sich von ihrer Familie und ihren Freunden zu isolieren und immer exzessiver Sport zu treiben, beginnt ihre physische und psychische Charakterwandlung. Anna repräsentiert diese Stimme im Kopf, die ein schlechtes Gewissen macht, nicht noch einen Kilometer mehr gerannt zu sein oder die die Sauce auf dem Salat verbietet.

Doch wie realistisch ist der Umgang mit Magersucht in Film und Fernsehen, verglichen mit den Erlebnissen und Erfahrungen Betroffener?

Ganz harmlos hat es bei der Studentin Luisa* angefangen. Als sie 15 Jahre war kam eine Freundin auf sie zu und erzählte ihr von der „Weight Watcher’s-Diät“. Irgendwann hörte die Freundin auf mit dem zwanghaften Kalorienzählen. Doch da war Luisas Kampfgeist schon längst geweckt.

„Ich wollte disziplinierter sein als andere und habe mich mit den schwindenden Kilos immer hübscher, attraktiver und natürlich leichter gefühlt.“

Zwei Jahre lang dominierten Kalorien, Sport und Verzicht ihre Gedanken. Ihr tägliches Ziel etwa 800 Kalorien. Wie Lily Collins im Film konnte auch sie die Kalorientabelle sämtlicher Nahrungsmittel bald auswendig und zählte jede einzelne Kalorie. 115 für eine Banane, 144 für ein Vollkornbrötchen und rund 77 Kalorien für eine Kartoffel. „Ich hatte eine Extra-Box im Schreibtisch, in der ich Essen gehortet habe.“ Nach einem Stückchen Kuchen an ihrem Geburtstag fühlte sie sich unglaublich schlecht und reduzierte daraufhin ihre Kalorienanzahl für den nächsten Tag, „in meinem Kopf war klar, wenn du das isst, muss du etwas anderes weglassen.“ Beim Abendessen wurden Brotscheiben unter dem Kissen versteckt, Saucen in die Blumenkästen gekippt oder auch mit langen Ärmeln aufgesaugt. In einem dreiviertel Jahr nahm sie rund 10 Kilo ab, bis es schließlich mit einem Gewichtsverlust von 23,5 Kilo eskalierte. Ein viermonatiger Klinikaufenthalt sowie eine ambulante Therapie holten sie aus diesem Teufelskreis heraus.

Luisa hat beide Formate gesehen und steht vor allem der Netflix Verfilmung kritisch gegenüber.

„Bei „to the bone“ ist Magersucht eine Glamourkrankheit. Der Charakter des typischen Bad Girls, das gegen alle Autoritätspersonen rebelliert ist unrealistisch. Natürlich gibt es Ausnahmen – doch die meisten Erkrankten passen sich an und versuchen so wenig wie möglich aufzufallen. Magersucht wird hier als rebellische Teenie-Phase dargestellt, obwohl es eine einsame Krankheit ist. Bei ihr wirkt es eher wie ein Lifestyle. Auch Krankheitserscheinungen fehlen fast komplett im Film. Die verminderte Nahrungszufuhr führt zu extremen Mangelerscheinungen. Der Körper isst irgendwann eigene Muskeln auf und auch die Gehirnfunktionen leiden erheblich. Ich hatte Wasser im Herzen und katastrophale Blutwerte. Eine Elektrolytverschiebung hätte gereicht und ich wäre gestorben. Die Situation im Film wird  zu sehr romantisiert.“

Als Ellen im Film das Haus der Essgestörten-WG betritt verfällt der einzige männliche Patient, ein magersüchtiger ehemaliger Balletttänzer mit lädiertem Knie gleich ihrem Charme.

„Ich würde fast behaupten Magersüchtige können sich gar nicht mehr verlieben. Dieses Gefühl von Schmetterlingen und natürlich auch körperliche Intimität das geht gar nicht. Vor allem, weil dein Körper auch keine Libido mehr empfindet. Wenn man kurz vorm Sterben ist kommt einfach kein Verliebtheitsgefühl auf, denn der Körper kämpft ums Überleben.“

Ein großer Kritikpunkt ist weiter das Aussehen Lily Collins. Sogar bei einer Nahtoderfahrung schwebt Lilly Collins elfenhaft in einem luftigen weißen Kleid durch die bergige Landschaft. Der Blick auf ihren ausgemergelten Körper ist nur von kurzer Dauer.

„Sie sieht nicht magersüchtig dünn aus, wirkt eher zu gesund für eine „echte“ Magersüchtige und viel zu zurechtgemacht. Mit vollem Haar und schöner Haut, sieht sie immer noch schön aus. Das Gesicht ist eigentlich noch viel eingefallener. Man sieht einfach gruselig aus, eher wie auf Bildern aus den Konzentrationslagern“, findet Luisa.

Ellen verkörpert die perfekte Antiheldin und kann vor allem für ein jüngeres Publikum als Vorbild gefährlich werden. Sie ist schon mit Anfang 20 eine populäre Künstlerin und besticht auch in Szenen, in denen sie dem Tod ganz nah ist durch ihr zurecht gemachtes Erscheinungsbild, das keineswegs abschreckend wirkt. Selbst das Umringen des Armes mit Daumen und Zeigefinger scheint ein erstrebenswertes Erfolgserlebnis zu sein und lässt ihr schweres Leid wie eine angesagte Glamour-Krankheit wirken.

*Name von der Redaktion geändert

Wenn du Probleme mit einer Essstörung hast und Unterstützung brauchst, melde dich bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Beratungstelefon für Essstörungen: Mo-Do 10-22 Uhr/ Fr 10-18 Uhr  (0221)/89 20 31