Endstation Florida

„The American Dream“ – der Mythos von Freiheit und unbegrenzten Möglichkeiten hat auch hier in Europa ganze Generationen geprägt. Levi’s waren die Jeans der Wahl, getanzt wurde zu Elvis oder später Madonna, Hollywood sprühte nur so vor Glamour und der „Big Apple“ oder die Route 66 wurden zu Sehnsuchtsorten. Im Jahre 2018 scheint dieser Glanz verschwunden. Mit dem „American Way Of Life“ verbinden die Meisten höchstens noch McDonalds oder die Kardashians.
Sean Bakers „The Florida Project“, der am 15. März in den deutschen Kinos gestartet ist, erzählt vom Leben auf der Kehrseite des ursprünglichen „American Dream“, von denen, die nicht nur die Politik, sondern auch die amerikanische Filmindustrie in den letzten Jahren weitgehend ignoriert oder einfach vergessen hat.

Es ist nicht viel los rund um Orlando, Florida. Die Ferien haben begonnen, die Sonne knallt vom Himmel. Irgendwo in der Ödnis kurz hinter Disney Land, direkt am Highway, steht eines der vielen verlassenen Motels, die ursprünglich für Touristen gebaut wurden. Jetzt ist das quietschlilane „Magic Castle“ Zuhause von Menschen, die es nicht schaffen ihre Miete einen Monat im Voraus zu zahlen, die jede Tag aufs neue versuchen die 38 Dollar pro Nacht zusammenzukratzen. Die 6–Jährige Moonee und ihr bester Freund zeigen Jancey, die im „Futureland“ nebenan wohnt, ihre bonbonfarbene Welt. Schnell hinter der Mauer hervorgelugt ob die Bahn frei ist und los geht es: „Der Mann der hier wohnt, der wird oft verhaftet“ „Diese Zimmer hier sind für uns verboten – wir gehen trotzdem rein!“, voller kindlicher Neugierde rennen die drei los.

In szenischen Sequenzen verfolgt der Zuschauer die Kids auf Augenhöhe und hat durch die zurückhaltende, natürliche Kameraführung das Gefühl ganz nah mit dabei zu sein. Beinahe wird man selbst wieder zum Kind, versetzt sich hinein in die Naivität und Unbeschwertheit und ertappt sich dabei zu kichern, wenn Moonee und ihre Freunde allerlei Blödsinn anstellen. So verbringen die drei den Sommer, immer auf der Suche nach Abenteuern, versunken in ihrer Phantasiewelt, die vor Lebensfreude und Farben nur so sprüht – aber auch vor Tragik. Denn genau diese Naivität ist der Grund dafür, dass Moonee nicht mitbekommt, wie ihre 22-Jährige Mutter sich jede Woche eine neue Strategie überlegen muss, um die Miete zusammenzubekommen. Als Halley zusammen mit ihrer Tochter Bikini-Selfies macht, sind das für Moonee seltene Momente, in denen sie Mamas Aufmerksamkeit für sich hat und mit ihr herumalbern kann. Nur der Zuschauer ahnt was der eigentliche Zweck der Fotos ist.

Gecastet hat Baker für seinen neuen Film fast ausschließlich Laienschauspieler, denen er viel Raum für Improvisation lässt. Die typische Hollywood-Performance ablehnend, entstehen authentische Szenen, die man so im Kino selten findet. Den Gegenpol zu den fluchenden, herumtollenden und chaotischen Bewohnern des Motels hat der Regisseur mit Willem Dafoe besetzt. Sonst aus actionreichen Blockbustern wie „Spider Man“ oder „John Wick“ bekannt, spielt er Bobby, den Manager des „Magic Castle“. Bobby fungiert als eine Art Vaterfigur, der mit seiner mitfühlenden und dennoch nüchternen Art versucht Ordnung in die beinahe auseinander fallende Welt seiner Mieter zu bringen. Für diese vielschichtige Darstellung wurde Dafoe für dem Oskar als bester Nebendarsteller nominiert. Als wahres Schauspieltalent entpuppt sich auch Bria Vinaite, die Baker über Instagram gefunden hat und die den ambivalenten Charakter von Moonees Mutter Halley verkörpert. Mal schickt sie ihre Tochter genervt zum Pancakes holen, mal tanzt sie mit ihr ausgelassen durch den Regen und wirkt dabei wie die Lebensfreude in Person.

Auch ansonsten strotz der Film nur so von unkonventionellen stilistischen Mitteln. So wird weitgehend auf Filmmusik verzichtet – denn die gibt es im echten Leben ja auch nicht. Was für einige Zuschauer in Kombination mit dem fehlenden dramatischen Handlungsstrang schmucklos wirken könnten, wird durch die Farbgestaltung wieder ausgeglichen. Wie schon das Artwork sprüht auch der Film in Regenbogenfarben, wie die Spielwelt einer 6-Jährigen.

Sean Baker ist es gelungen in 111 Minuten ein facettenreiches und authentisches Portraits des Lebens der Abgehängten der amerikanischen Gesellschaft zu zeichnen. Ohne erhobenen Zeigefinger, sondern mit viel Mitgefühl zeichnet er vielschichtige Charaktere, in die man sich hineinversetzen kann, sodass es fast weh tut zuzuschauen. Denn auch das ist „The Florida Project“: ein Film der einen herausfordert, und mit vielen Fragen, Eindrücken und Gedanken zurücklässt.